Aus der Nähe ist keiner normal

Von Cornelia Braun und Susanne König · 27.08.2011
Für die einen war er ein charismatischer Vordenker, für die anderen ein übler Nestbeschmutzer - als "Folterer" bezeichnete der Psychiater Franco Basaglia seine Zunft und prangerte in den 60er-Jahren unermüdlich die katastrophalen Missstände in den psychiatrischen Kliniken Italiens an: Tausende Zwangseingewiesene vegetierten, ihrer Bürgerrechte beraubt, in den Anstalten vor sich hin, mit Elektroschocks und Medikamenten ruhiggestellt und ohne Aussicht auf eine Rückkehr ins Leben.
1971 übernahm Franco Basaglia die Leitung der Psychiatrischen Klinik San Giovanni in Triest, mit der offen bekundeten Absicht, sie aufzulösen und den 1200 Insassen "auf eine andere Art und Weise zu helfen". Das war kein Husarenstreich, sondern ein jahrelanger Prozess, in dem ein psychiatrisches Netzwerk von Anlaufstellen in den Stadtteilen, Wohngemeinschaften und Kooperativen geschaffen wurde. Ärzte und Pfleger mussten lernen, die Patienten als gleichberechtigte Gesprächspartner anzuerkennen und die Triester Bevölkerung ihr Klischee vom "gefährlichen Irren" bearbeiten.

Mit der "Legge 180" wurde diese Reform 1978, zwei Jahre vor Franco Basaglias frühem Tod, in Italien zum Gesetz erhoben und 2001 von der WHO zur weltweiten Nachahmung empfohlen.

In der Langen Nacht erzählen Wegbegleiter von Franco Basaglia, Mitarbeiter und Nutzerinnen des "Centro di Salute Mentale Barcola", einem der vier Gemeindezentren für ambulante psychiatrische Assistenz in Triest vom schwierigen Prozess, die gesellschaftliche Ausgrenzung psychisch kranker Menschen zu überwinden.


Franco Basaglia bei Wikipedia


Keine Form der Institutionalisierung kann den Kranken helfen, sich selbst zu finden. Die Psychiatrie muss zerstören, was zwei Jahrhunderte ihre Basis war: das Irrenhaus.
Franco Basaglia

Franco Basaglia
Die Entscheidung des Psychiaters
Bilanz eines Lebenswerks.
2002 Psychiatrie-Verlag



Auszug aus dem Manuskript:

Bei den Passanten in den Straßen von San Giovanni genießt Franco Basaglia einen ausgezeichneten Ruf als Arzt und Menschenfreund. Alle nennen das Gelände der Psychiatrischen Anstalt immer noch "il manicomio", "das Irrenhaus" und finden gut, dass es nicht mehr in Betrieb ist.

"Basaglia war ein guter Arzt. Wenn er nicht gewesen wäre, säßen die immer noch da drin. Als ich klein war, bin ich mal dort gewesen, das werde ich nie vergessen. Es war furchtbar. Käfige, unbeschreiblich, Käfige mit Menschen drin, schrecklich, sie waren eingesperrt wie die Tiere." Passant in den Straßen von San Giovanni

"Damals - also das ist das, was ich gehört habe - wenn damals eine Frau ihren Ehemann nicht mehr wollte, dann hat sie ihn in die Anstalt abgeschoben. Und genauso umgekehrt: Wenn der Ehemann die Frau nicht mehr wollte, hat er sie einliefern lassen. Das ist auch einer Verwandten von mir passiert. Ich finde Basaglia hat Großartiges geleistet." Passant in den Straßen von San Giovanni


Peter Gelhorn
Antipsychiatrische Reformbewegungen im zeithistorischen Kontext am Beispiel Italien
2011 GRIN Verlag
Um die Mitte des 20. Jahrhunderts setzte in der Psychiatrie verstärkt ein Umdenken ein. Immer mehr Psychiater auf der ganzen Welt waren der Meinung, dass die traditionelle Psychiatrie versagte, ja sogar schädlich sei für die Patienten, und man von völlig falschen Prämissen ausginge. Sie entwickelten alternative Konzepte. In Italien führte dies letztlich dazu, dass die "Anstalten" per Gesetz verboten wurden. Der führende Kopf dieser Bewegung war der ebenso charismatische wie umstrittene Franco Basaglia.
Diese Arbeit untersucht die historischen, politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, unter welchen diese Reformbewegung entstand, sich entwickelte und letztlich zu dieser bahnbrechenden Entwicklung führte. Es wird weiterhin untersucht, wie die praktische Umsetzung außer und welche Ergebnisse sie hervorbrachte. Weiter wird versucht, sie in den antipsychiatrischen Kontext einzuordnen sowie eine kritische Würdigung vorzunehmen.


Alda Merini (Wikipedia)
La Terra Santa ist wahrnehmbar von ihren Klinikaufenthalten geprägt und wird als ihr Hauptwerk angesehen.
Italienische Website zur Dichterin Alda Merini


Auszug aus dem Manuskript:

Über 20 Jahre ihres Lebens hat die Lyrikerin Alda Merini in psychiatrischen Anstalten verbracht. In vielen Gedichten und Prosatexten erzählt sie von ihren Erfahrungen.

Das Irrenhaus ist ein gigantischer
Resonanzkörper,
und das Delirium: Echo,
die Namenlosigkeit: Maß
Das Irrenhaus ist der verwunschene
Berg Zion, auf dem du
die Tafeln eines Gesetzes erhältst,
das die Menschen nicht kennen.
(Aus dem Italienischen von Christoph Ferber ,NZZ Sa 6. März 2010)


"Der Wahnsinn ist ein Zustand des menschlichen Geistes - die Vernunft ein anderer. Um sich zivilisiert nennen zu können, müsste eine Gesellschaft den Wahnsinn also genauso akzeptieren wie die Vernunft, stattdessen wird eine Wissenschaft beauftragt, den Wahnsinn als Krankheit zu definieren, mit dem Ziel, ihn zu beseitigen. Daraus schöpft das Irrenhaus seine Daseinsberechtigung." Franco Basaglia


Nathalie Dramis
Von negierter Institution zu gemeindenaher psychosozialer Versorgung
Inwieweit haben die Antipsychiatrie und die demokratische Psychiatrie dazu beigetragen, den psychosozialen Dienst zu demokratisieren?
2010 VDM Verlag Dr. Müller
Wie wurden psychisch Leidende zu verschiedenen Zeiten definiert, etikettiert und behandelt? Wie kam es zur Entstehung geschlossener psychiatrischer Krankenhäuser? In den 1960er/1970er-Jahren wurde in sozialwissenschaftlichen Kreisen Kritik an der Kategorie Geisteskrankheit und an der totalen Institution des Asyls geübt. Sie bemängelten die Missstände in der Behandlung der psychisch Kranken . Das in die Geschichte eingegangene und von dem englischen Psychiater David Cooper geprägte Kritikmodell der "Antipsychiatrie" wird in dieser Arbeit näher beleuchtet. Das Hauptaugenmerk liegt auf der in Italien gewachsenen und durch die Antipsychiatrie beeinflusste antiinstitutionelle demokratische Psychiatriebewegung. Zu den wichtigsten Vertretern gehörte unter anderem Franco Basaglia. Warum ist Basaglia für die absolute Negation der geschlossenen psychiatrischen Anstalt? Welche Folgen hatte die Bewegung für die italienische Psychiatrie? Was ist das Demokratische an der italienischen Psychiatrie? Wie war die Rezeption im europäischen Ausland und wie ist die heutige psychiatrische Landschaft Italiens zu bewerten? Welche Rolle übernahm die Sozialpädagogik im Zuge dieser Entwicklung?


Auszug aus dem Manuskript:

Die Anstalt hatte den Menschen ihre Biografie gestohlen, deshalb versuchten die Mitarbeiter Basaglias, die Lebensgeschichten der Patienten zu rekonstruieren. Bei dieser Suche halfen die Krankenakten in San Giovanni wenig weiter. Jahre, Jahrzehnte reduzierten sich auf magere Zeilen. Auch zur Vorgeschichte gab es kaum Hinweise. Ein Krankenblatt sah wie folgt aus: Nach kurzen Daten zur Person, der Diagnose gab es allenfalls kurze Stichworte zur Behandlung und zum Zustand des Patienten.

Klaus Hartung: Die neuen Kleider der Psychiatrie S.55

10.5.47 Elektroschock
10.7.47 fiebrig belegte Zunge
10.11.47 nichts Neues
12.4.48 immer apathisch, stumpfsinnig, jeder Initiative beraubt. Drückt keine Wünsche aus; lächelt nichtssagend, isst freiwillig, scheint nicht zu halluzinieren.
10.11.61 (nach 13 Jahren) schwere geistige Verwirrung, apathisch, untätig, indifferent.
1964 ruhig, nicht aggressiv, untätig
1967 unverändert
1970 nicht ansprechbar, beschmutzt sich, apathisch indifferent

Das sind Auszüge aus der Krankenakte von Vincenzo M., der mit 17 Jahren ins Irrenhaus eingeliefert wurde und für die folgenden 27 Jahre in ein- und derselben Abteilung verschwand. Diagnose: chronische Schizophrenie. Als er eingeliefert wurde, war er ein junger Mann, der zur Schule gegangen war, der also lesen und schreiben konnte, der sprach, aß, sich ankleidete, auf die Toilette ging und sich völlig normal sauber hielt. Seine Tage verbrachte er mit Vorliebe auf der Terrasse der Abteilung.
Nur wenige Jahre brauchte es, bis er im "Irrenhaus" zu dem wurde, was wir unter einem "Irren" verstehen.

"Wenn du irgendwann in einer Institution lange bist, dann meinst du, dass das, was du siehst, im Grunde nichts mit der Institution zu tun hat, sondern die waren ja auch irre, die machen das alles, die waschen sich nicht, die verhalten sich so, die sind aggressiv, die sind das, weil sie irre sind. Nicht, weil sie in einer Institution leben. Und die ganze Institutions-Kritik ist doch darüber gelaufen, dass man im Grunde das Doppelte sieht, nicht den Menschen, sondern das, was die Institution aus den Menschen tagtäglich macht."

Franco Basaglias Ziel ist die konsequente Abschaffung der "Verwahr-Anstalten". Er will ein gemeindenahes Versorgungssystem aufbauen, mit Zentren vor Ort als Anlaufstellen, mit betreuten Wohngemeinschaften, mit Mitarbeitern, die zu den Betroffenen nach Hause in ihre eigenen Wohnungen oder zu den Familien kommen.

Franco Basaglia: Die Entscheidung des Psychiaters
" Wir wollen keine Revolution, wir wollen die Beziehungen zwischen Menschen radikal verändern. "


Klaus Hartung
Die neuen Kleider der Psychiatrie.
Vom antiinstitutionellen Kampf zum Kleinkrieg gegen die Misere,
Berichte aus Triest.
Rotbuch 231. Berlin: Rotbuch-Verlag, 1980.

H. Häfner: Hat Basaglia eine bessere Psychiatrie geschaffen? (PDF)
Zur Biografie der italienischen Psychoreform
In: Der Nervenarzt (Ausgabe 7/2001)
Springer-Verlag Berlin Heidelberg , 2001