Aus den Feuilletons

Intim-Terror an Schulen

Von Arno Orzessek · 26.04.2014
"Was sie noch nie über Sex wissen wollten" - gemeint sind Schüler: Im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung echauffiert man sich über sexualpädagogischen Unfug, der mit 13-Jährigen veranstaltet werden soll. Dafür gibt es aber auch was fürs Auge: Justin Timberlake und seinen Körper.
Am Donnerstag war es mit der gewohnten linksliberalen Toleranz der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vorbei.
Unter dem Titel "Was sie noch nie über Sex wissen wollten" – "sie" wohlgemerkt kleingeschrieben, es ging um Schulkinder -, knöpfte sich Christian Weber das Lehrbuch "Sexualpädagogik der Vielfalt" vor.
Es gilt offenbar als Standardwerk...
Und empfiehlt etwa für den Unterricht mit 13-Jährigen, sie mögen im Kreis ihrer Mitschüler in frei gewählter Form – "‚als Gedicht, als Bild, [...] als Theaterstück'" – über ihr erstes Mal berichten.
"'Das erste Mal ein Kondom überziehen, das erste Mal ein Tampon einführen, das erste Mal Analverkehr.'"
"Muss man ein verklemmter, pietistischer und homophober Spießer sein, wenn man sein Kind nicht mit allergrößter Begeisterung in diese Art von Unterricht schicken möchte?"
...fragte sich SZ-Autor Weber... Und als SZ-Leser fragten wir uns: Warum verurteilt Weber den sexualpädagogischen Unfug, in dem Aufklärung in Intim-Terror umschlägt, nicht noch schärfer?
Um die Pubertierenden sorgte sich auch die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, in der Melanie Mühl die Mühen der "Körperbewirtschaftung" in den Zeiten sozialer Medien beleuchtete.
"Wie ist es, sagen wir einmal im Alter von fünfzehn Jahren, ständig Selbstporträts im Netz zu posten und panisch darauf bedacht sein zu müssen, dass man auch auf jenen Schnappschüssen toll aussieht, die andere fabrizieren? Dieser Druck lastet in erster Linie auf Mädchen, er lastet aber in immer stärkerem Ausmaß auch auf Jungs, deren Vorbilder freilich nicht dürre Models sind, sondern fitte, muskeldefinierte Körper wie der von David Beckham."
Gut in Schuss ist allemal der Body von Justin Timberlake... Dessen Konzert in Berlin den TAGESSPIEGEL zu der Überschrift "Stil, Welt, Meister" inspirierte.
"Sich selbst zum Kaiser oder König ausrufen? Kann man eigentlich seit Napoleon nicht mehr bringen. Es sei denn, man macht es so geschickt wie Justin Timberlake. Im letzten Konzertdrittel steht er irgendwann allein mit Akustikgitarre auf einer kleinen Zusatzbühne und covert erst 'Heartbreak Hotel' von Elvis und kurz darauf 'Human Nature' von Michael Jackson. Fertig ist die Ahnenreihe: King of Rock'n'Roll, King of Pop und jetzt Mister Timberlake."
Weil wir gerade bei hübschen Männern sind: "Ich denke, also bin ich Johnny Depp", überschrieb die Tageszeitung DIE WELT ihre Kritik zu "Transcendence".
In dem Science-Fiction-Film von Wally Pfister lässt der von Depp gespielte Wissenschaftler sein Gehirn an einen emotionsfähigen Supercomputer anschließen. WELT-Autor Gerhard Midding fand das Ergebnis dürftig:
"Der Film schlägt Widerhaken ins Fleisch der Überwältigungsdramaturgie. Leider geraten ihm seine Charaktere zur bloßen Inkarnation von Ideen, deren immense Resonanzräume selten mit dem Plot in Einklang gebracht werden."
Schmissiger argumentierte Christina Nord in der TAGESZEITUNG.
"Ein Gehirn hochladen? Kein Problem! Einen Film daraus machen? Schon eher. So aufdringlich Pfister auch zur Schau stellt, dass sich Technologie missbrauchen lässt, so wenig Mut hat er, seine dystopische Sache konsequent durchzuziehen."
Kaum nötig zu sagen, dass die FAZ in der vergangenen wie in jeder anderen Woche seit Menschengedenken die Missbrauchsmöglichkeiten von Big Data tief ausgelotet hat. Harald Welzer fragte, warum wir uns trotz der Ausforschung durch Staaten und Konzerne nicht wie im Totalitarismus fühlen und antwortete:
"Wir interpretieren diese Gefährdung nach historischen Erfahrungen, und da sieht Totalitarismus eben so aus wie bei Stalin, Hitler und Pol Pot. Und nicht wie bei (Apple-Gründer) Steve Jobs."
Ebenfalls zu Wort kam der Informatiker Jaron Lanier, laut FAZ der Vater des Begriffs "virtuelle Realität". Anders als viele Datenschützer glaubt Lanier nicht, dass sich unsere Privatsphäre noch per Gesetz schützen lasse. Vielmehr gelte, so Lanier:
"Wer die leistungsfähigsten Computer hat, entscheidet in einer hochentwickelten Gesellschaft über das Schicksal aller anderen. Das sollte uns Sorgen bereiten. Selbst wenn man Open Source verwendet, befindet man sich noch immer in der Gesellschaft, die von Google und Co. umgebaut wird. Wir sollten aber auf Melodramatik verzichten. Die Leute bei Google sind keine Bösewichte. Das Problem ist, dass sie in einer extrem einflussreichen Position sind, in der sie die Gesellschaft destabilisieren werden, wenn nichts dagegen unternommen wird."
Mit Europas Destabilisierung und Re-Nationalisierung angesichts der Krim- und Ukraine-Krise befasste sich Martin Meyer in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG.
"Tatsache ist, dass mit den Einigungsprozessen der Europäischen Union nationale Hoheitsrechte in den Hintergrund rückten, was sich wiederum im Selbstbewusstsein nationalstaatlich verfasster Bürgerschaften bemerkt machte: Es erlitt Beschädigungen und wurde lebenspraktisch mit Verfahrensfragen konfrontiert, die häufig als schikanöse Abstraktionen wahrgenommen wurden. Zudem vergrößert sich bis heute die Kluft zwischen den Funktionseliten und Durchschnitteuropäern bezüglich der Wünschbarkeit von ‚mehr Europa' ziemlich rasant."
Wundern Sie sich darüber, liebe Hörer, dass wir den 450sten Geburtstag Shakespeares noch nicht erwähnt haben? Die Feuilletons ließen ihn, gelinde gesagt, nicht unerwähnt. Aber eine Verbeugung kam nicht vor – eine wortlose. Und für eben diese haben wir uns entschieden.
Bleibt zu erwähnen, dass die SZ Papst Johannes XXIII., der an diesem Sonntag mit Johannes Paul II. zur Ehre der Altäre erhoben wird, als "Revolutionär" gefeiert hat.
Er sei, so Willi Winkler mit Hannah Arendt, der "wahre, also der Gegen-Papst", der gegen die dogmatisch verknöcherte Kirche steht. Zuletzt eine Überlegung im Blick auf Ihre musikalische Sonntagsgestaltung, liebe Hörer. Sie kennen den Spruch von Johann Gottfried Seume: Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder...
Aber wer weiß, vielleicht hat auch die WELT recht. Sie warnte:
"Wo man singt, da schießen sie dich nieder."