Aus den Feuilletons

"Berlin ist nur ein warmer Händedruck"

Plakate der 64. Berlinale am Potsdamer Platz
Plakate der 64. Berlinale am Potsdamer Platz © picture alliance / dpa / Paul Zinken
Von Tobias Wenzel · 05.02.2014
Viel Masse, wenig Klasse? Und ist Cannes nicht sowieso das bessere Festival? Pünktlich zum Start der Berlinale widmen sich auch die Feuilletons ausführlich dem Filmfestival - und die Autoren haben einiges zu meckern.
"Davon können auch hübsche Narben zurückbleiben", hat Regisseur Dominik Graf zu seinen Erfahrungen bei der Berlinale gesagt. Das berichtet wiederum Tobias Kniebe in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG in seinem Vorbericht zum größten deutschen, an diesem Donnerstag beginnenden Filmfestival, dem alles bestimmenden Thema der Feuilletons. Das gemeine Volk kenne von den Juroren nur Oscar-Preisträger Christoph Waltz, mäkelt Kniebe. Zwar seien sonst einige große Namen zu Gast, wie George Clooney, Cate Blanchett und Tilda Swinton. Aber es sei, wie schon im letzten Jahr, ein "Mangel an echten Weltpremieren" zu konstatieren. Dann der positive Schlenker des Filmkritikers: "Die Auswahl für dieses Jahr setzt im Zweifelsfall auf Debütanten und weniger bekannte Namen […]. Nur solche Aufbauarbeit ermöglicht es überhaupt, die Regiestars von morgen frühzeitig an das Festival zu binden."
Andreas Kilb von der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG widerspricht da vehement. Die Berlinale bilde nur Talente aus, die dann später in Cannes Ruhm kassierten. Warum? "Cannes ist ein Ritterschlag, Berlin nur ein warmer Händedruck." Mit den nun rund 400 Filmen bestätige die Berlinale einmal mehr, was sie zum Problem mache: "Sie ist ein Festival der vielen, nicht der Besten." Damit könnte der FAZ-Kritiker ja vielleicht noch leben. Wenn es bei den vielen Filmen, und eben nur Filmen, bliebe:
"Die Berlinale […] ist, wenn man ihren Katalog von hinten her liest, kein Filmfestival, sondern eine zwölftägige Kino-Universität mit Forschungsvorhaben übers ganze Jahr."
Freude auf die 64. Berlinale kommt dagegen im TAGESSPIEGEL auf. Vier deutsche Regisseure kämpfen mit ihren Filmen im Wettbewerb um den goldenen Bären. Neben dem bereits erwähnten Dominik Graf auch drei weitere, die der TAGESSPIEGEL zur "Gruppensitzung" geladen hat. Frage der Zeitung: "Feo Aladag, Sie erzählen von deutschen Soldaten in Afghanistan, Dietrich Brüggemann von einem unter rigidem Katholizismus leidenden Mädchen, Edward Berger von zwei vernachlässigten Kindern in Berlin: Wie kommen Sie auf Ihre Themen?" – "Das würd‘ ich gern mal alles in einem einzigen Film sehen", sagt Dietrich Brüggemann. Schnoddrig-schöner kann man nicht antworten auf eine derart einfältige Frage.
"Tatsächlich ist das Werk […] ein monumentaler Exzess und eine wüste Ausschweifung, es ist rücksichtslos, gewalttätig, skandalös bildwütig und stellenweise auch grausam komisch", schreibt Thomas Assheuer von der ZEIT über Lars von Triers fünfstündigen Berlinale-Beitrag "Nymphomaniac". Sicher für einen Skandal des Festivals gut, wenigstens während der Pressekonferenz mit dem Regisseur, prophezeien einige Kritiker. Assheuer jedenfalls nennt den Film ein "Teufelswerk".
Man liest den Begriff "Blasphemie" sehr wohl, in dem offenen Brief des PEN an die russische Regierung, den die FAZ veröffentlicht. Der Schriftstellerverband wendet sich gegen die schwulen- und demokratiefeindlichen neuen Gesetze Russlands. Aber irgendwie würde der offene Brief an einem vorbeirauschen, wenn die SZ nicht ein sehr konkretes Beispiel brächte. "Hätte man Leningrad aufgeben müssen, um Hunderttausende Menschenleben zu retten?", fragte letzte Woche, so Julian Hans in seinem Bericht, der russische Fernsehsender Doschd – und rührte damit an einem Tabu. Russische Parlamentsabgeordnete sprachen von – genau! – "Blasphemie". "Wenn wir anfangen, solche Umfragen zu tolerieren, beginnt bei uns die Erosion der Nation", sagte ein Sprecher Putins und empfahl allen Kabelnetzbetreibern, den unliebsamen, weil kritischen Fernsehsender aus ihrem Angebot zu löschen. Das taten die meisten, vermutlich auf gehörigem Druck von ganz oben. Und plötzlich war Doschd nicht mehr in 17 Millionen Haushalten zu sehen, sondern nur noch in zwei Millionen. Der Sender kämpft nun ums Überleben. Nach dieser Information liest man den offenen Brief des PEN an die russische Regierung noch einmal ganz langsam und sehr genau.