Aus dem Bauch heraus

06.12.2007
Nein, keine Entwarnung: Denken bleibt dringend empfohlen. Aber Intuition, gefühltes Wissen, das viel zitierte Bauchgefühl sind Vermögen diesseits von Esoterik und ihre Vorzüge in Entscheidungssituationen lassen sich von der modernen Hirnforschung rational nachvollziehen. Das belegt Gerald Traufetter, "Spiegel"-Wissenschaftsredakteur, in "Intuition – Die Weisheit der Gefühle". Er macht aus den alten Streithähnen ‚Verstand’ und ‚Intuition’ starke Partner.
Denn das gefühlte Wissen fällt nicht vom Himmel, sondern greift auf die riesigen Verarbeitungsleistungen des Gehirns zurück, die unbewusst ablaufen; es nutzt Erfahrungen, die dem Verstand unzugänglich sind. "Der Bauch kann nicht denken", widerspricht Traufetter simplen Popularisierungen. Trotzdem sind Magendrücken und Herzrasen wichtige Zeichen: "Die Intuition kommuniziert mit dem Verstand durch die Sprache der Gefühle."

Gerald Traufetter, studierter Politik- und Kommunikationswissenschaftler, selbst weder Hirn- noch Gefühlsforscher, wertet für "Intuition" die psychologische und neurologische Forschungsliteratur der letzten 15 Jahre aus und sucht Koryphäen wie Antonio Damasio, Gerd Grigenzer, Gerhard Roth und Gary Klein nach guter Reportersitte persönlich auf. Er illustriert spektakuläre Bauchentscheidungen wie jene Neil Armstrongs beim Anflug auf den Mond 1969 mit großer Verve, hat immer die Orientierungs- und Entscheidungsprobleme des Alltags im Auge und kommt durch rasche Kapitelwechsel der Rezipientenermüdung zuvor. Kurz, Traufetter hat ein geschmeidiges Sachbuch verfasst, das sich am Stil amerikanischer Wissenschaftsreporter, weniger an alteuropäischer Kulturwissenschaft orientiert.

"Pure Vernunft wird niemals siegen", lautet das Eingangsstatement in "Intuition", was eine Absage an die philosophische Bevorzugung reiner Rationalität á la Descartes und an das Trugbild des Homo oeconomicus ist, dessen Entscheidungen allein auf bewusster Informationsabwägung gründen. Traufetter provoziert mit der These des niederländischen Psychologen Ap Dijksterhuis: "Je komplizierter die Wahl ist, desto unbewusster sollte man entscheiden." Im Kapitel "Die Anatomie der Intuition" werden die Gründe im Rahmen der Gehirnphysiologie und Neurologie ausgeführt. Intuitionen greifen extrem schnell auf das "emotionale Erfahrungsgedächtnis" (Gerhard Roth) und "gefühltes Wissen" zu. Mannschaftssportler und Feuerwehrleute zum Beispiel bedienen sich dauernd dieser Kapazitäten – es ginge gar nicht anders.

"Die Intuition im Einsatz" überschreibt Traufetter seine Erzählung über die Weisheit der Gefühle im Sozialen, im Arbeitsleben und in der Kunst. Es ist praktisch eine aktuelle, psychologisch fundierte Auslegung von Blaise Pascals Diktum: "Das Herz hat Gründe, von denen die Vernunft nichts weiß." Traufetter konzentriert sich naturgemäß auf Fälle, die das Funktionieren, nicht das Versagen von Intuitionen zeigen. Al Alcorn etwa stellte als Chefingenieur von Atari-Computer den mies gekleideten, stinkenden, frechen Steve Jobs ein – und Jobs gab der Welt später Apple-Computer und iPod.

Nachdem Traufetter jedem klugen Menschen die Bauchgefühle als praktische, auf ihre Art hochintelligente Lebensbewältigungshelfer anempfohlen hat, stellt er sich dem Problem "Intuition erlernen". Es ist einfach zu lösen: "Üben, üben und nochmals üben." Wenn Intuition auf Erfahrung und Wissen beruht, muss man für ein erfolgreiches Bauchmenschentum beide anhäufen. Traufetters naheliegender Slogan lautet: "Mit dem Verstand intuitiv entscheiden." Das erinnert an das Diktum des Sozialpsychologen Timothy Wilson: "Das Kunststück besteht darin, ein fundiertes Bauchgefühl zu entwickeln und dieses dann nicht zu eingehend zu analysieren." Dass Traufetter sein lesenswertes, keineswegs heilsbringerisches Buch mit der Beschreibung eines langweiligen Entscheidungsfindungssystems abschließt, erscheint indessen als Mangel an Intuition. In diesem Punkt: Üben!

Rezensiert von Arno Orzessek

Intuition - Die Weisheit der Gefühle
Von Gerald Traufetter
Rowohlt Verlag
Reinbek bei Hamburg, 2007, 335 Seiten,
gebunden, 19,90 Euro
ISBN 978-3-498-06522 5