Aufwachsen im Fischerdorf

06.09.2010
Morgan Callan Rogers, 1952 in Maine geboren, studierte Anglistin, hat Erzählungen und Essays publiziert. Unter dem halb kitschigen, halb poetischen Titel "Rubinrotes Herz, eisblaue See" ist nun auch in deutscher Übersetzung ihr erster Roman erschienen.
Landschaft und Meer haben darin eine herausgehobene Bedeutung und sind mehr als bloß Schauplatz oder Stimmungskulisse für die in den 1960er-Jahren spielende Geschichte. Sie bilden eine Einheit mit den Bewohnern des Fischerdorfs "The Point". Eine Ausnahme ist die Kellnerin Carlie. Mit roten Haaren und ihrer ganzen Art fällt sie aus dem Rahmen, innerlich kommt sie nie zur Ruhe. Gleichwohl führt sie eine glückliche Ehe mit dem Fischer Leeman und ist der gemeinsamen Tochter Florine eine liebevolle Mutter. Ihre Tochter verlebt eine glückliche Kindheit, Familie und Dorfgemeinschaft sind intakt.

Florine ist Protagonistin und Erzählerin des Romans. Er beginnt, als sie elf Jahre alt ist und ihre Mutter spurlos verschwindet. Dieser schreckliche Verlust prägt fortan ihr Leben. Florine vermisst Carlie verzweifelt, sie wartet Jahr um Jahr auf ihre Rückkehr. Mit klarer Sprache, ohne Larmoyanz zeichnet die Autorin differenziert Charaktere, Beziehungen, nicht zuletzt die Landschaft und das Dorf. Florines Gefühle verdeutlicht sie ohne umständliche Erklärungen durch die Darstellung selbst.

Das junge Mädchen verzeiht ihrem Vater nicht, dass er ein Verhältnis mit Stella beginnt, die ihn immer schon geliebt hat. Florine, mittlerweile in der Pubertät und immer noch uneingeschränkt solidarisch mit ihrer verschwundenen Mutter, hasst Stella. Sie macht dem Vater und seiner Geliebten das Leben zur Hölle.

Schließlich zieht sie zur Großmutter, einer sehr frommen, sehr klugen und ungeheuer großherzigen Frau, der sie sich zutiefst verbunden fühlt. Von ihr lernt sie stricken und Brot backen.

Und erlebt die Loyalität ihrer Freundin Dotty sowie die Liebe ihres besten Freundes Bud zu einem anderen Mädchen, erste eigene Verliebtheit und sexuelle Gefühle. Und sie lernt zu erkennen, was sie möchte und was sie tun muss, um es zu bekommen.

"Rubinrotes Herz, eisblaue See" ist ein Adoleszenzroman von der allerbesten Sorte, der fesselt, auch wenn man an den Problemen Heranwachsender nicht besonders interessiert ist. Es gelingt Morgan Callan Rogers, ihre Figuren so lebendig werden zu lassen, dass man an ihrem Leben teilnimmt.

Denn es geht der Autorin nicht allein um die Adoleszenzproblematik, sondern um grundsätzliche menschliche Erfahrungen: es geht – vollkommen unaufdringlich und ohne jedes Pathos - um Verlust, um Liebe, um die Erkenntnis eigener Grenzen und Möglichkeiten und um den Sinn des Lebens.

Obwohl der Roman - von einigen heftigen Schicksalsschlägen abgesehen – vergleichsweise arm an spektakulären Ereignissen ist, ist er keine Sekunde lang langweilig. Das liegt an der Ökonomie des Erzählens, an der Anschaulichkeit der Darstellung, an den Figuren, den lebendigen Dialogen, an der wunderbaren Landschaft. Kritisieren kann man eine gewisse Idyllisierung des Lebens im Dorf – aber das tut letztlich dem Fazit keinen Abbruch: "Rubinrotes Herz, eisblaue See" ist ein kluger, wunderbar erzählter Roman, den man den Leserinnen und Lesern nur ans Herz legen kann.

Besprochen von Gertrud Lehnert

Morgan Callan Rogers: Rubinrotes Herz, eisblaue See
Aus dem Amerikanischen von Claudia Feldmann
mareverlag, Hamburg 2010
432 Seiten, 19,90 Euro