Aufbruch in die Moderne

Von Ludger Fittkau · 11.04.2012
Europa ist auf der Liste der Weltkulturerbestätten der UNESCO unverhältnismäßig stark vertreten. Andere Kontinente sollen nachziehen. Doch die um 1900 geschaffene Künstlerkolonie Mathildenhöhe in Darmstadt hat trotz dieser neuen globalen Prioritäten gute Chancen, zum Welterbe erklärt zu werden.
Gut erhaltene Jugendstilvillen, in denen die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung oder das Deutsche Polen-Institut untergebracht ist. Parkähnliche Anlagen, in denen man auf Schritt und Tritt auf Skulpturen stößt. Geräumige Gebäude, in denen herausragende Wechselausstellungen stattfinden, wie unlängst "Gesamtkunstwerk Expressionismus", von Kritikern als eine der hierzulande wichtigsten Ausstellungen der letzten Jahre gewürdigt.

All das ist schön, aber nicht maßgeblich dafür, die 1899 gegründete Darmstädter Künstlerkolonie zur Welterbestätte zu erklären.

"Es ist der Genius Loci, um den es da geht. Es geht darum, dass 1899 und dann in den darauffolgenden Jahren mit der Künstlerkolonie etwas entstanden ist, was in der Tat einmalig ist und weit über die Region und Deutschland hinaus wirkt","

sagt Jochen Partsch, Grüner Oberbürgermeister und Kulturdezernent von Darmstadt.

Entscheidend, so auch der Kunst -und Architekturhistoriker Werner Oechslin von der ETH Zürich in einem aktuellen Gutachten, sei vielmehr die "geistige Bewegung", die die Mathildehöhe seit ihrer Gründung um 1899 immer als "lebendiges Gebilde" erhalten und dafür gesorgt habe, dass die Künstlerkolonie nie zum Museum wurde. Schon die ersten Künstler, die die Kolonie um 1900 besiedelten, betrachteten die Mathildenhöhe als ein großes ästhetisches Experimentierfeld, so der Darmstädter Stadtchef Jochen Partsch:

""Es ist etwas entstanden, wo es darum ging, wie können wir wohnen und arbeiten. Schöpferische Kreativität und Lebensreform zusammenführen. Und das ist etwas und das wird aus dem Gutachten von Professor Oechslin auch sehr deutlich herausgearbeitet, was in der Tat einzigartig ist und ein Kriterium für die Welterbefähigkeit ist."

Ausstellungen, selbst Gebäude waren von Beginn an nicht auf Dauer angelegt, sondern Ausdruck der jeweiligen künstlerischen und intellektuellen Avantgarde der Zeit. Die Architekten Peter Behrends und Joseph Maria Olbrich, etwa, die beide schon zu den ersten Mathildenhöhenbewohnern gehörten, agierten dort als Gesamtkünstler, in dem sie bei den Inneneinrichtungen der von ihnen gebauten Häusern mit Industriedesign spielten. Aus Behrends Büro gingen später Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe und Le Corbusier hervor. Ralf Beil, ist heute Leiter des Instituts Mathildenhöhe und Kurator vielbeachteter Ausstellungen in der Künstlerkolonie. Er glaubt, dass die Wirkung der Mathildenhöhe am Beginn der Moderne bis jetzt erst ansatzweise erforscht und begriffen ist:

"Hier geht es ja doch bei diesem Ort der Mathildenhöhe Darmstadt darum, dass wir hier ein Gesamtkunstwerk von Joseph Maria Olbrich mit Beispielen von Peter Behrends haben und das dieser Wert natürlich immer weiter ansteigt. Das heißt, wir sind ja gerade erst dabei, diesen Ort wirklich zu entdecken."

Einen Ort, an dem in den 1920er-Jahren Tausende den indischen Literaturnobelpreisträge Rabindranath Tagore wie einen Guru feierten. Einen Ort, an dem Theodor W. Adorno und Alexander Mitscherlich in den 1950er-Jahren sogenannte "Darmstädter Gespräche" veranstalteten. Diese fanden teilweise am Rande der nach dem Krieg entstandenen "Internationalen Ferienkurse für neue Musik" statt - es diskutierten Stockhausen, Pierre Boulez oder Luigi Nono. Die Ferienkurse gibt es immer noch, die "Darmstädter Gespräche" erlebten in den letzten Jahren eine Neuauflage, etwa mit den Philosophen Zygmunt Baumann und Bruno Latour. Der Darmstädter Oberbürgermeister Jochen Partsch:

"Es ist so, wenn sie sich anschauen in dem Gesamtgeist das internationale Musikinstitut, Darmstadt als Zentrum von neuer, moderner Musik nach dem Zweiten Weltkrieg - überall ist zu sehen, dass hier ein Aufbruch in die Moderne stattgefunden hat und immer noch stattfindet."

All das führt nun dazu, dass Hessen nun die Mathildenhöhe Darmstadt zur Aufnahme in die UNESCO-Weltkulturerbeliste vorschlägt. Obwohl die UNESCO zur Zeit vor allem mögliche Welterbestätten auf anderen Kontinenten sucht, um kulturellen Eurozentrismus zu vermeiden: Als ein schon mehr als ein Jahrhundert ausstrahlender Ort künstlerischer und intellektueller Avantgarde könnte die Darmstädter Künstlerkolonie tatsächlich eine geistige Lücke auf der Welterbeliste füllen.
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