Auf der Suche nach dem Banalen

Von Michaela Schlagenwerth · 10.03.2010
"Alles offen. Rostocker Geschichten aus der Zeitenwende", ein Stück des in Frankfurt/M. geborenen Tobias Rausch, erzählt vom Mauerfall aus ungewöhnlicher Perspektive. Es fängt die Sicht von Rostocker Bürgern auf das Ereignis ein und ist in dieser Saison in Rostock und Berlin zu sehen.
Aus dem Stück: "Guten Tag. Ich hab gehört, man kann hier seine Geschichte erzählen. Ich war Leiterin der Volksbank von Rostock. Jeder, der reisen durfte, konnte sich bei uns 15 Mark West eins zu eins umtauschen. Vor der Maueröffnung war das natürlich kein Problem, aber danach ..."

Rausch: "Ich glaube, es sind ganz oft diese ganz kleinen Erlebnisse, die man, während man sie erlebt, oft nicht als wichtig erfährt, die aber trotzdem den Weg und das, was man ist, prägen. (…) Die Leute, die wir interviewen, die ja völlig normale Leute sind, die nie von sich gedacht hätten, dass sie etwas Interessantes zu erzählen hätten, dass die während des Erzählens merken, dass sie etwas Wertvolles zu erzählen haben. Dass ihr Leben etwas bedeutet, dass ihr Leben auch für andere etwas bedeutet. Dass ihre Geschichte anderen etwas mitteilen kann."

Blass und ein wenig spitz im Gesicht sitzt Tobias Rausch vor einer großen Tasse Salbeitee in der Küche seiner Wohnung in Berlin-Friedrichshain. "Alles offen. Rostocker Geschichten aus der Zeitenwende", so heißt das Stück, das er im vergangenen Oktober zum 20. Jahrestag des Mauerfalls am Rostocker Theater am Stadthafen inszeniert hat. Montiert aus Interviews mit 70 Zeitzeugen, inszeniert mit drei professionellen Schauspielern. "Alles offen", das jetzt auch zu den Autorentheatertagen in Berlin eingeladen wurde, ist ein erstaunliches Stück. Es fördert zu einem Thema, zu dem eigentlich alles schon unzählige Male erzählt wurde, etwas ganz Eigenes zutage. Etwas über die Menschen im damaligen Rostock.

"Rostock ist die besondere Situation, dass da eigentlich sehr spät es losging mit Protesten gegen die DDR-Staatsführung und man eigentlich bis fast zum Schluss in eine Art Winkel war, wo nicht so wahnsinnig viel passiert ist."

Tobias Rausch fängt diese Stimmung zwischen Aufbruch und Stillstand ein. Er hat für sein Stück nicht nach Helden gesucht, auch nicht nach Anti-Helden oder nach großen Geschichten, sondern nach Nebensächlichkeiten. Auch wenn ...

"man so eine Vorstellung hat, das ist nicht dramatisch genug. Das entspricht nicht diesen Vorstellungen von Held und in einem Konflikt sein und eine wichtige Entscheidung fällen."

Aber gerade im scheinbar Banalen und Unwichtigen spürt der Regisseur des in Berlin ansässigen Theaterkollektivs Lunatiks etwas von dem Flair und dem Geschmack eines vergangenen Alltags auf. Das macht Tobias Rauschs Inszenierungen vielleicht im Osten, wo viel vom früheren Alltag unglaublich schnell verloren ging, besonders erfolgreich. Die Menschen stehen Schlange, um "Alles offen" in Rostock oder "Schicht C", Tobias Rauschs Stück über den Katastrophenwinter 1970 im Greifswalder Kernkraftwerk, im Theater Vorpommern zu sehen. Denn diese Arbeiten geben den Menschen, ohne dass die DDR dabei im Geringsten verklärt würde, etwas von ihrer Geschichte zurück.

Neugier ist für den 35-Jährigen, in Frankfurt/Main Geborenen dabei der wichtigste Antrieb:

"Bei mir persönlich kommt es ganz stark daher, dass ich so eine Empfindung habe, nicht so wahnsinnig viel zu erleben und erlebt zu haben. So eine Biografie zu haben, in einem sehr wohl behüteten Elternhaus aufgewachsen zu sein und sehr geradlinigen Weg über die Schule und das Studium genommen zu haben."

So, wie er da auf einem Küchenstuhl sitzt, so blass und unauffällig und bar jeder Exzentrik, glaubt man das dem Sohn eines Kaufmanns für medizinischen Krankenhausbedarf und einer Hausfrau sofort. Tobias Rausch hat in Freiburg und Berlin Germanistik und Theaterwissenschaft studiert und vielleicht ist seine Lust am Alltäglichen ja sogar aus dem Gefühl dieser Erlebnisarmut entstanden. Er ist fest davon überzeugt, dass man sein eigenes Leben selbst in Ausnahmesituationen als eine Anreihung von Nebensächlichkeiten wahrnimmt.

"Oft fällt ja die Entscheidung mit einem. Man ist zwar daran beteiligt, es gibt zwar einen Prozess, in dem man drin ist und wo man gar nicht mehr unterscheiden kann, was habe ich selbst entschieden und was ist einfach so gekommen."

Die Kunst ist dann, herauszufinden, worin das Spannende solcher Geschichten liegt – die klein sind und keinen Höhepunkt haben und keinen dramatischen Konflikt.

"Immer wieder bei den Projekten gibt es Leute, die nach den Interviews sagen, ja, was wollen Sie denn jetzt damit anfangen, wie soll denn daraus Theater werden?"

Aus dem Stück: "Der Kommunismus ist auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Oder:'Die DDR.' Mit Müllhaufen ist das so eine Sache. Jahre später fängt's an zu stinken und dann muss man alles wieder ausbuddeln."

Tobias Rausch buddelt gern. Angefangen hat er damit durch Zufall, wegen eines Fragments von Friedrich Schiller, "Die Polizei":

"Das hat er nicht fertig geschrieben, das war nur eine Skizze, und da war klar, das kann man nicht einfach spielen. Das ist nur so eine Art Entwurf, wie man ein Theaterstück machen könnte. Und dann haben wir gesagt, ja dann müssen wir im Prinzip gucken, mit welchen realen Fällen wir diese Skizze auffüllen, und das war zum ersten Mal, dass wir angefangen haben zu recherchieren."

Tobias Rausch hat Polizisten, Gefängnisinsassen und unschuldig in einen Kriminalfall Verwickelte interviewt. Es war für ihn die Entdeckung einer neuen Welt.

"Und da war zum ersten Mal die Erfahrung das, dass man auf Leute getroffen ist, mit denen man sonst nie zu tun gehabt hätte. Gegenüber denen man auch viele Vorurteile und Klischees hatte."

Der Regisseur hat sich nur zu gern verwirren lassen.

"Da öffnen sich so ganz viele Türen und man sitzt plötzlich in so einem Wohnzimmer und die Leute erzählen aus dem Leben. Das ist ein irres Geschenk."

Und seitdem erzählt Tobias Rausch auf der Bühne ihre Geschichten.


Service:
"Alles offen" ist im Volkstheater Rostock am 10. März 2010 zu sehen und am 8. und 9. April 2010 in der Box des Deutschen Theaters in Berlin.