Atonal

Echos von der Schweinehaut

Der Eingang zum Club Tresor in der Köpenicker Straße in Mitte am 12.02.2009 in Berlin während der Party "Transducers! Berlin - London - Wien" von Filmbranche und elektronischer Musikszene
Eingang zum Club Tresor in der Köpenicker Straße in Berlin-Mitte © dpa / picture alliance / Jens Kalaene
Von Tobi Müller · 20.08.2014
Das Festival Berlin Atonal eröffnete mit dem Ensemble Modern und Klassikern der Minimal Music. Es ist eine Verneigung vor dem Familienroman elektronischer Musik. Doch so verhallt hat man Steve Reich wohl noch nie gehört – passt perfekt!
In Berlin sind Heizkraftwerke der heiße Scheiß: Berghain und Tresor sind zwei Clubs, die in einem dieser Kathedralen aus Beton Platz fanden. Der neue Tresor, nicht der alte, legendäre unweit des Potsdamer Platzes. Gründer Dimitri Hegemann lässt auch den neuen Club im Keller wummern. Die majestätische Architektur des entkernten Kraftwerks nebenan ist besonderen Ereignissen zugedacht (und anders auch gar nicht zu finanzieren).
Beton ohne Ende, bestimmt 30 Meter Höhe, mehrere Ebenen, Säulen, Sicherheitsnetze, wo es zehn Meter runtergeht. Hier findet das Festival Berlin Atonal statt, das Hegemann letztes Jahr neu lanciert hat. Als Mentor: Die Programmierung liegt in den Händen von drei jüngeren Männern, von Paulo Reachi, Harry Glass und Laurens von Oswald.
Und dann wird das Festival im so schicken wie schroffen Umfeld mit zwei Stücken von Steve Reich eröffnet, gespielt vom tollen Ensemble Modern aus Frankfurt. "Drumming, Pt. 1" und "Music for 18 Musicians". Zwei Klassiker der Minimal Music aus den Siebzigerjahren. Total tonal, wattig weich. Vier Perkussionisten spielen "Drumming" auf kleinen Bongos, mit Holzschlegeln.
Falsch spielen, um es richtig zu machen
Irre, wie das in diesem Raum klingt. Voller Echos und Halleffekte, die allein die "natürliche" Akustik des Betons und der schieren Größe herstellt. Die Komposition ist vertrackt, und für klassisch ausgebildete, virtuose Musiker eine Herausforderung: Denn hier hört man viel vom berühmten "Phasing", die Rhythmen werden leicht (phasen-)verschoben gespielt, in leicht unterschiedlichen Tempi. Kurz, die Musiker müssen ein bisschen falsch spielen, um es ganz richtig zu machen. So entsteht ein flirrender Eindruck zwischen Lockerheit und Kontrolle. Der Raum trennt den Klang in zwei verschiedene Klänge auf: hier das Holz, das auf die Schweinehaut trifft; dort der Klang, den die Resonanz der Trommel entwickelt.
Viele im Publikum schließen die Augen, wippen mit, lassen schier den Becher fallen. Mit dem Begriff des Atonalen hat das alles nichts zu tun, diese Musik kann widerstandsfrei durchrauschen und somit für das Gegenteil der Festivalgeschichte stehen. Zum einen. Zum andern aber: In diesem Raum wurde die Traditionslinie von Minimal Music zu elektronischer Musik und Techno, über die so viel geredet wird, plastisch erfahrbar.
Regime des Vorwärts gegen rhythmische Widerstände
Ein Beat, der streng ist, und sich doch laufend überlagert; ein Regime des Vorwärtstreibenden, das rhythmische Widerstände einbaut und erst diese als geschmeidig empfindet: hier treffen sich der Konzertsaal der akademischen Minimal Music mit dem autodidaktischen Dancefloor der letzten zwei, drei Jahrzehnte.
Mit Steve Reich zu beginnen, ist also eine historisierende Geste. Seht her, wir wir sind Teil einer Tradition, die weiter reicht, als man denkt. Sicher auch weiter, als die Berliner Lokalgeschichtsschreibung es in den letzten Jahren wiederholt. Die Post-Punk-Achtziger in West-Berlin und der Technoaufbruch mit dem Mauerfall: Die Zeugenberichte ähneln sich immer mehr, auch der Tenor des "früher war alles freier". Frei auch im Sinne von umsonst, da man ja im Ost-Berlin der Wendezeit in den Häusern der gerade Geflüchteten oder längst Enteigneten gewohnt hat: im Elend der anderen. Auch deshalb tut es gut, die Geschichte nicht allzu lokal, nicht allzu eng zu formulieren zum Start dieser Festivalausgabe. Seine historische Phase hatte Berlin Atonal von 1982 bis 1990 in West-Berlin.
Der "Tresor"-Gründer Dimitri Hegemann
Der "Tresor"-Gründer Dimitri Hegemann© Marie Staggat
Die erste Ausgabe, Hegemann war bereits dabei, prägten Bands wie die Einstürzenden Neubauten, die Szene nannte sich "Geniale Dilletanten", die falsche Schreibweise mit den zwei l statt der zwei t war Programm. Krach, Noise, Widerstand. So anders das klang: Vieles wurde bereits formuliert, was wenige Jahre später mit Techno seinen Durchbruch feierte. Das Selbermachen, die Ästhetik des Fehlers und des Zufalls, die Liebe zur Maschine und ihrer Rekontextualisierung (der berühmteste Technoklag der Frühzeit war eine fehlmanipulierte Schlagzeugmaschine).
Geigen decken das Dach ab
Verblüffend, wie man manche dieser Sounds wieder beim Ensemble Modern hört, nur in diesem Betonraum mit dieser Deutlichkeit. Im gut einstündigen Stück "Music for 18 Musicians" fliegen einzelne Staccati, also stosshafte, rasch wiederholte Noten, durch den Raum wie weiland die berühmte Drum Machine Roland 303 oder 808. Die Bassklarinetten machen Druck, die Geigen decken das Dach ab und die vier Sängerinnen der britischen Synergy Vocals gehen sachte in die oberen Mitten. Bei aller Tendenz zum "Schöner Wohnen", die die Minimal Music über die Jahre auch entfaltet hat, hier zeigt sie Muskeln. Und eine Dynamik mit langem Atem. Große Begeisterung im Publikum.
Zwar tritt mit Cabaret Voltaire später in der Woche ein Industrial-Klassiker der Achtzigerjahre auf. Doch mit Nostalgie hat das Festival wenig am Hut, die jungen Kuratoren haben zeitgenössische elektronische Musik im Programm, die sich längst als Kunst begreift und die Nähe zu den Bewegtbildern sucht. Auch Techno und sein kommerzieller Aspekt sind da nur noch eine Erinnerung. Die Eröffnung dagegen war ein Lehrstück in sinnlicher Geschichtsschreibung.

Webseite des Festival Berlin Atonal