Asli Erdogan vor Gericht

Nichts ist gut in der Türkei

Kurden und Aleviten am 12. November 2016 in Köln: Sie demonstrieren mit Plakaten gegen die Verhaftung der Schriftstellerin Asli Erdogan.
Kurden und Aleviten am 12. November 2016 in Köln: Sie demonstrieren mit Plakaten gegen die Verhaftung der Schriftstellerin Asli Erdogan. © ure alliance / dpa
Esmahan Aykol im Gespräch mit Nana Brink · 29.12.2016
Die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan (49) steht ab heute in Istanbul wegen Terrorismusvorwürfen vor Gericht. Der Ausgang ist völlig unklar. Die Autorin Esmahan Aykol sieht die Türkei weiter von Europa entfernt als jemals zuvor.
Die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan (49) und acht weitere Angeklagte stehen ab heute in Istanbul wegen Terrorismusvorwürfen vor Gericht. Ihnen wird unter anderem vorgeworfen, Mitglied in der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK gewesen zu sein. Die Journalistin, Rechtsanwältin und Krimiautorin Esmahan Aykol hatte Erdogan vor rund zwei Monaten im Gefängnis besucht. Sie habe mit den Umständen dort gut umgehen können, berichtete Aykol im Deutschlandradio Kultur.

Niemand weiß, was im Parlament los ist

Die derzeitige Situation in der Türkei beschreibt Aykol drastisch: Das Land sei weiter entfernt von Europa als jemals zuvor. Nach den Massenverhaftungen und -entlassungen sei die Türkei kein Rechtsstaat mehr. Es gebe keine freie Berichterstattung, niemand wisse derzeit, was im Parlament wirklich los sei. Intellektuelle hätten große Angst und lebten zurückgezogen - die Kommunikation in der Opposition finde vor allem über die sozialen Medien statt.
Die türkische Journalistin und Krimiautorin, Esmahan Aykol; Aufnahme aus dem Jahr 2012
Die türkische Journalistin und Krimiautorin Esmahan Aykol© imago / Leemage
Dennoch glaubt Aykol nicht daran, dass der türkische Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mit seinem autoritären Stil durchkommt. Der Wirtschaft gehe es schlecht, überall flackerten immer wieder Proteste auf, jeden Tag stürben türkische Soldaten: Die Lage sei für Erdogan nicht haltbar.

Die Staatsanwaltschaft will lebenslang

So glaubt Aykol sogar daran, dass Asli Erdogan heute freikommen könnte: "Man weiß nie", sagte sie, die Richter ließen sich auch nicht mehr von Recht und Gesetz leiten. Sie glaube aber, dass es der Staat den Fall Asli Erdogan nicht mehr weiter treiben wolle.
Die Staatsanwaltschaft fordert in dem Prozess gegen die Schriftstellerin lebenslange Haft. Hintergrund sind ihre Kolummen für die inzwischen geschlossene prokurdische Zeitung "Özgür Gündem". (ahe)

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Fast ein halbes Jahr nach dem Putschversuch in der Türkei nach flächendeckenden Suspendierungen von Staatsbeamten und Entlassungen laufen in diesen Tagen die ersten Prozesse. Unter anderem beginnt auch heute der Prozess gegen die bekannte internationale bekannte Schriftstellerin Asli Erdogan. Und Kontakte zu Asli Erdogan hat auch ihre Kollegin, die Journalistin und Krimiautorin Esmahan Aykol. Sie hat die deutsche Staatsbürgerschaft, lebt aber überwiegend in Istanbul. Ich grüße Sie!
Esmahan Aykol: Guten Morgen!
Brink: Was hören Sie von Asli Erdogan, was haben Sie zuletzt von ihr gehört?
Aykol: Also, ich bin in der Türkei zugelassene Rechtsanwältin und war vor zwei Monaten im Gefängnis, habe Asli und Necmiye Alpay besucht. Also, sie waren beide … Aslis Moral war ganz hoch, sie war … Sie konnte damit umgehen, mit diesen Umständen im Gefängnis. Und ich glaube, heute kommt sie endlich frei. Ich hoffe es.
Brink: Heute beginnt ja der Prozess gegen sie, auch gegen viele andere, was mich zu der Frage bringt: Da Präsident Erdogan ja die Massenmedien weitestgehend kontrolliert, wie stark nehmen Sie denn die Opposition im Lande noch wahr?
Aykol: Also, es gibt natürlich noch eine institutionelle Oppositionspartei im Parlament, CHP, die haben die Republik gegründet. Das ist die Partei Mustafa Kemal Atatürks. Es gibt aber gleichzeitig so eine Schmutzpropaganda, dass der Leader Kemal Kilicdaroglu kein Gewicht mehr hat. Er ist zu einer Witzfigur in der Gesellschaft gemacht worden. Und es gibt auch keine freien Medien, die über die Opposition berichten. Also, wir wissen überhaupt nicht, was im Parlament los ist. Jetzt wird gerade über eine Verfassungsänderung verhandelt im Parlament und wir wissen überhaupt nicht, was da los ist.
Brink: Wie stark vernehmen Sie denn die Stimmen von Intellektuellen noch? Sie haben ja im August noch mal davon gesprochen, dass Sie große Angst haben, zum Beispiel abgehört zu werden.
Aykol: Genau. Intellektuelle haben eine große Angst, die leben meist zurückgezogen. Es gibt ein paar oppositionelle Artikel, aber sehr vorsichtig geschrieben. Wenn man von einer Opposition redet: Es gibt eine große Frauenbewegung, es wird eine immer größer werdende Frauenbewegung und Studentenbewegung, sonst gibt es keine Opposition in dem Lande.
Brink: Wie äußert sich denn diese Opposition, wie können sich Intellektuelle äußern? Denn wir wissen ja, dass die Medien weitestgehend kontrolliert werden, wenn sie nicht sogar verboten sind oder staatlich unter Kontrolle sind. Geht das über soziale Medien oder wie funktioniert das, wie bewerkstelligen Sie das?
Aykol: Zum Teil über soziale Medien, über Tweeds. Also, sogar wegen Tweeds kann man verhaftet werden. Heute Morgen gerade habe ich in Twitter gelesen, dass Ahmet Sik heute Morgen sieben Uhr verhaftet worden ist in seiner Wohnung, er ist auch ein Journalist. Und zum Teil über Webseiten, so kleinere Webseiten. Sonst gibt es kleine Zeitungen, eine linke und eine kurdische, sonst haben wir keine Quellen mehr, keine Nachrichtenquellen.
Brink: Sie haben im Juli sich ja noch ganz optimistisch geäußert. Sie haben gesagt, Präsident Erdogan werde sich wahrscheinlich nicht langfristig halten können. Das glauben Sie heute nicht mehr. Wo steht das Land Ihrer Meinung nach?
Aykol: Also, wir stehen bestimmt weit entfernter zu Europa als vor … Die Türkei ist kein Rechtsstaat mehr, das ist … Also, wir können in der Türkei von Rechtsstaatlichkeit nicht mehr sprechen. Es gab Massenverhaftungen, über 100.000 Menschen sind entlassen worden vom Staatsdienst, auch nicht nur Islamisten, also nicht nur Gülenisten, sondern auch andere Oppositionelle, Linke, viele Kurden, Parlamentsmitglieder der Kurdischen Partei sitzen im Gefängnis. Also, wir sind viel, weit entfernter von Europa als je zuvor.
Brink: Was macht Sie denn optimistisch? Weil ich noch mal an den Anfang unseres Gesprächs zurückkomme, wo Sie gesagt haben, Sie hoffen oder Sie gehen eigentlich davon aus, dass Asli Erdogan, also Ihre Kollegin, heute – oder zumindest nicht heute, aber dann im Verlaufe des Prozesses – doch freikommt. Was erwarten Sie von diesem Prozess? Glauben Sie das?
Aykol: Also, ich denke immer noch, dass die Lage aus Sicht der Regierung oder von Tayyip Erdogan, die Situation in dem Lande nicht haltbar ist. Also, die Ökonomie geht sehr schlecht, es gibt überall Proteste, so kleinere, aber es gibt überall, in fast jeder Stadt in Anatolien gibt es Proteste, jeden Tag, es gibt … fast jeden Tag 20 Soldaten werden ermordet in Syrien oder im Osten des Landes. Die Lage ist für Tayyip Erdogan nicht haltbar, denke ich immer noch, das kann nicht lange dauern.
Brink: Also, Sie sagen, das Land ist in Aufruhr doch?
Aykol: Genau.
Brink: Und was erwarten Sie von dem Prozess, um noch mal darauf zurückzukommen, glauben Sie an eine Freilassung?
Aykol: Das glaube ich schon, ja, es gibt … Also, ja, das glaube ich schon. Also, man weiß nie, davor weiß man … Sie verhalten sich auch nicht nach Gesetz oder nach Rechtsordnung, deshalb kann man nicht genau sagen, was da wird. Aber ich glaube, dass sie … ja, dass sie es nicht mehr weitergehen wollen.
Brink: Und ist dann Druck nötig, also zum Beispiel von Deutschland auf Erdogan?
Aykol: Das hat bestimmt geholfen, zumindest als Unterstützung für uns, diejenigen, die für Freiheit und für Demokratie in dem Lande kämpfen. Das ist natürlich sehr wichtig, dass wir Unterstützung aus Europa bekommen.
Brink: Vielen Dank, Esmahan Aykol, Krimiautorin in Istanbul. Danke schön für Ihre Einschätzungen! Und heute beginnt der Prozess gegen die inhaftierte Autorin Asli Erdogan in der Türkei.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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