Arbeitsmarktexperte: Bundesregierung wirbt zu wenig um Zuwanderer

Herbert Brücker im Gespräch mit Dieter Kassel · 05.10.2012
Nach Einschätzung von Herbert Brücker reagiert die Bundesregierung zu zögerlich auf die wachsende Bedeutung von Zuwanderern für den Arbeitsmarkt. "Migration ist der entscheidende Hebel, das Erwerbspersonenpotenzial zu stabilisieren", sagte der Arbeitsmarktexperte anlässlich des Demografiegipfels.
Dieter Kassel: Gestern hat die Bundesregierung den ersten Demografiegipfel veranstaltet. Der Gipfel ist vorbei, aber er soll Folgen haben: Jetzt gibt es neun Arbeitsgruppen, die bis zum Mai des nächsten Jahres Konzepte entwickeln sollen, um dem Bevölkerungsschwund und seinen Folgen entgegenzuwirken.

Gerade bei den Politikern klang das gestern fast ein bisschen nach Panik oder zumindest nach starker Beunruhigung, was uns bevorsteht, und Schuld daran ist eine Zahl: 17 Millionen. Um 17 Millionen soll die Bevölkerung in Deutschland in den nächsten 50 Jahren zurückgehen, das heißt, ungefähr ein Fünftel der Deutschen ist dann plötzlich nicht mehr da.

Ich habe über diese Zahl und ihre möglichen Folgen mit Herbert Brücker gesprochen kurz vor dieser Sendung, er ist der Leiter des Forschungsbereichs Internationale Vergleiche und Europäische Integration beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, habe ihm noch mal erzählt, welche Panik ich da zum Teil gespürt habe bei den Politikern und ihn gefragt, ob diese Zahl ihn genauso beunruhigt.

Herbert Brücker: Ja, beunruhigen tut mich das auch, weil es Probleme für die Sozialversicherungssysteme bedeutet. Die Vorstellung, die viele Menschen haben, dass wir dann keinerlei Arbeitslosigkeit mehr haben werden, also dass wir dann eine Fachkräftelücke haben werden, die Arbeitgeber sehr viel Arbeit nachfragen werden, aber wir die entsprechenden Arbeitskräfte nicht mehr haben, muss allerdings nicht unbedingt eintreffen.

Ich gehe davon aus, dass die Märkte sich anpassen werden, vor allen Dingen die Kapitalmärkte, die Volkswirtschaft wird insgesamt schrumpfen, und zu diesem Schrumpfungsprozess gehört dann auch, dass die Arbeitsnachfrage sinken wird, nur dass es uns im schlimmsten Fall passieren kann, dass wir das gleiche Niveau der Arbeitslosigkeit von heute haben bei einer sehr viel kleineren Erwerbsbevölkerung.

Kassel: Das heißt, das Schreckgespenst des Fachkräftemangels, der ja schon jetzt herrschen soll und der in Zukunft sich deutlich verschärfen soll - das sehen Sie nicht?

Brücker: Gegenwärtig der Fachkräftemangel hat mit Demografie noch überhaupt nichts zu tun. Wir stehen gegenwärtig auf dem historischen Höhepunkt des Arbeitsangebots in Deutschland, also wir haben so viele Arbeitskräfte, wie wir noch nie gehabt haben. Das liegt daran, dass die geburtenstarken Jahrgänge gegenwärtig noch im Erwerbsleben stehen.

Das ist eher ein Konjunkturphänomen. Also wir haben die Arbeitsmarktreform gehabt, die Konjunktur in Deutschland läuft sehr gut, deswegen steigt die Arbeitsnachfrage. Es kann uns umgekehrt passieren, wenn die Konjunktur einbricht, dass wir dann wieder hohe Arbeitslosigkeit haben. Das ist alles ungesichert. Also insofern wissen wir nicht, wo wir in 20 oder in 30 Jahren stehen werden.

Kassel: Wenn ich jetzt Ihrer Prognose folge, kann ich dann daraus schließen, dass die auch auf dem Demografiegipfel wieder gehörte Forderung nach mehr Einwanderung unberechtigt ist?

Brücker: Nein. Das Arbeitsangebot geht zurück, zugleich sinken die Investitionen, die Volkswirtschaft wird kleiner. Wir wissen noch nicht den Umfang. Wenn wir keinerlei Wanderung hätten, wenn die Erwerbsbeteiligung konstant wäre, dann wäre dieser Rückgang ... würde sich ungefähr bis zum Jahr 2050 auf 40 Prozent belaufen, wenn die Erwerbsbeteiligung steigt, dann immer noch auf gut 35 Prozent. Das heißt, Migration ist der entscheidende Hebel, das Erwerbspersonenpotenzial zu stabilisieren – also wir werden es nicht völlig gleich halten können –, zu stabilisieren.

Warum ist das sinnvoll? Es ist deshalb sinnvoll, weil immer weniger Erwerbstätige die Sozialversicherungssysteme finanzieren müssen, und da liegt das große Problem, und da liegt aber auch der große Gewinn durch Zuwanderung: Die Migranten helfen uns, die Sozialversicherungssysteme zu finanzieren, vor allen Dingen die Rentenversicherungssysteme, und das wird Verteilungskonflikte, die wir dann in Deutschland bekommen werden, doch stark entschärfen.

Kassel: Wäre es egal, wer zuwandert, oder reden wir weiterhin von der sogenannten qualifizierten Zuwanderung?

Brücker: Natürlich profitieren wir von der qualifizierten Zuwanderung mehr. Also wir wissen aus unseren Berechnungen, dass wir gegenwärtig, also bei der gegenwärtigen Qualifikationsstruktur der Zuwanderung, etwa 2000 Euro pro Jahr für die Sozialversicherungssysteme gewinnen. Wenn die Zuwanderer genauso gut qualifiziert wären wie die Deutschen und genauso gut in den Arbeitsmarkt integriert werden, würde das auf 5600 Euro steigen. Das heißt, je besser die Zuwanderer qualifiziert sind, umso höher sind die Gewinne.

Und da gibt es eine sehr gute Nachricht: Die Qualifikationsstruktur der Neuzuwanderer ist dramatisch gestiegen in den letzten zehn Jahren. Wir haben gegenwärtig etwa 40 Prozent Hochschulabsolventen unter den Neuzuwanderern, um das Jahr 2000 waren das rund 20 Prozent, und das ist natürlich auch eine sehr gute Nachricht für die Sozialversicherungssysteme.

Kassel: Da nehmen Sie mir jetzt fast schon bei der nächsten Frage den Wind aus den Segeln, ich frage es aber trotzdem: Es hat ja verschiedene Initiativen gegeben, um gerade qualifizierte Einwanderer nach Deutschland zu locken bis hin zu einer Art deutschen Greencard, und da hat sich mir doch eher der Eindruck vermittelt, dass Deutschland vielleicht dann doch für Akademiker aus dem Ausland nicht so attraktiv ist, wie wir uns das immer vorstellen. Ist das gar nicht wahr?

Brücker: Nein, das ist so nicht richtig. Also die Wanderungszahlen steigen einfach. Dass der Trend in Richtung hochqualifizierte Zuwanderung geht, das ist ein weltweiter Trend, also das gilt nicht nur für Deutschland, das gilt auch für die USA oder Großbritannien.

Das hängt damit zusammen, dass wir in den Wendeländern der Migration einen gewaltigen Bildungsschub erleben, also in Ländern, wo wir es auch gar nicht vermuten würden, auch in der Türkei, aber natürlich vor allen Dingen in osteuropäischen Ländern, aber selbst in den nordafrikanischen Ländern beobachten wir einen deutlichen Anstieg der Bildung der Bevölkerung. Das schlägt sich dann nieder in höher qualifizierter Migration, zumal die besser Qualifizierten eine viel höhere Wanderungsbereitschaft haben.

Kassel: Ein anderes Problem ist damit aber nicht zu lösen: Die Einwanderer müssen natürlich auch akzeptiert werden von den Menschen, die schon hier sind. Das scheint mir, reden wir doch mal ganz offen, schon ein Problem zu sein. Nehmen wir einfach nur das, was Sie schon gesagt haben, wenn Sie sagen: Na ja, es ist denkbar, dass wir die Arbeitslosigkeit in etwa auf dem Level halten werden wie jetzt, und Einwanderer brauchen wir aber trotzdem, dann wird natürlich der eine oder andere sagen: Warum denn dann? Warum nehmen wir die Arbeitsplätze nicht für die Arbeitslosen, die schon hier sind?

Brücker: Ja, das ist ein großes Problem, das ist ein ökonomisches Missverständnis. Migration ist für den Arbeitsmarkt neutral, und wenn Migration höher qualifiziert ist, senkt das die Arbeitslosigkeit sogar. Wir beobachten an empirischen Studien, dass die einheimische Bevölkerung von Zuwanderung profitiert, die negativen Folgen sind, wenn, nur erkennbar für die ausländische Bevölkerung. Das spiegelt sich aber nicht in der öffentlichen Einstellung.

Also die Menschen lehnen, so lange es Arbeitslosigkeit gibt, Zuwanderung doch stark ab, also zumindest Neuzuwanderung, und das hilft natürlich nicht, die Probleme, vor denen wir stehen, zu lösen. Die Politik reagiert da drauf mit einer sehr zögerlichen Einwanderungspolitik, und das macht mich natürlich auch ein bisschen pessimistisch, ob wir den Anstieg der Zuwanderung bekommen, den wir eigentlich brauchen.

Kassel: Sind Sie da vielleicht auch besonders pessimistisch jetzt nicht für die nächsten 50 Jahre, sondern die nächsten 14 Monate bis zur nächsten Bundestagswahl? Denn da scheint ja doch bei keiner Partei wirklich populär zu sein, sich allzu intensiv für mehr Einwanderung einzusetzen.

Brücker: Einerseits ist das richtig, also es wird keine Partei einen Zuwanderungswahlkampf führen, das kann ich gegenwärtig nicht erkennen. Wir können aber auch beobachten, dass sich gerade in diesem Jahr im Bereich der Einwanderungsgesetzgebung sehr viel getan hat. Wir haben die EU Blue Card bekommen, die Einkommensschwellen sind gesenkt worden, das heißt, es gibt eine Reihe von Gesetzesinitiativen, eine Reihe von Änderungen im Einwanderungsrecht, die eigentlich in die richtige Richtung gehen.

Es ist aber auch interessant, dass diese Änderungen von der breiteren Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt geblieben sind – das hängt auch damit zusammen, dass Politik damit nicht offensiv umgeht. Das hat den großen Nachteil, dass es dann auch im Ausland unbemerkt bleibt. Also wenn es bei uns keine große Debatte gibt, dass wir Zuwanderung brauchen, dass wir Veränderung haben, dann kommt das auch im Ausland nicht an, und das ist dann natürlich kein Werbefaktor für Zuwanderung.

Kassel: Wir reden heute Vormittag im Deutschlandradio Kultur mit Herbert Brücker, Leiter des Forschungsbereichs Internationale Vergleiche und Europäische Integration beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, und es gibt eine Folge der demografischen Entwicklung, eine voraussichtliche, Herr Brücker – in die Zukunft gucken so richtig können wir ja alle nicht –, die oft nicht so laut diskutiert wird, wenngleich man sagen muss, es sind ja nun neun Arbeitsgruppen eingerichtet worden auf dem Demografiegipfel und eine beschäftigt sich auch damit, nämlich die Auswirkungen auf ländliche Regionen.

Wenn in Zukunft, wie Sie gesagt haben, der Markt sich darauf einstellt, dass es weniger Arbeitnehmer gibt und es damit auch weniger Arbeitsplätze geben wird – wird das auch Folgen haben, was die Verteilung dieser Arbeitsplätze auf große Städte und auf ländliche Regionen angeht?

Brücker: Ja. Es ist so, dass Industrieunternehmen oder die Wirtschaft auch insgesamt profitiert von räumlichen Agglomerationen, das heißt, man kann effizienter produzieren, wenn man Zulieferer bei sich in der Nähe hat, wenn man zum Beispiel auch einen großen Arbeitsmarkt hat, wo man unterschiedliche Arbeitskräfte unterschiedlicher Qualifikationen findet, und so weiter und so fort. Also all das ist auf dem Land nicht gegeben oder weniger gegeben als in Städten, darum siedeln sich Industriebetriebe, auch Dienstleistungsbetriebe lieber in Regionen an, wo es, sagen wir mal, eine sehr dichte Bevölkerung gibt.

Das wird dazu führen, also der Rückgang der Bevölkerung wird dazu führen, dass diese Konzentration weiter zunimmt, sich verstärkt, durch Migration wird das dann auch noch mal weiter verstärkt, das heißt, wir werden ein zunehmendes Gefälle zwischen Stadt und Land haben. Insgesamt volkswirtschaftlich aus der deutschen Perspektive ist das positiv, aber dadurch steigt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, das ist also im Prinzip die günstige Tendenz, aber die Verteilung des Bruttoinlandsprodukts über die Regionen wird sehr viel ungleicher, das heißt, wir werden relativ reiche Städte haben und werden sehr arme Regionen auf dem Land haben.

Kassel: Aber wird man denn diesen Teufelskreis, in dem sich einige Regionen in Deutschland schon befinden, noch stoppen können? Dort gibt es wenig Geld, weil es wenig Menschen überhaupt und wenig Steuerzahler gibt, wegen des wenigen Geldes muss die Infrastruktur reduziert werden, wegen der reduzierten Infrastruktur werden diese Gebiete unattraktiver, deshalb wohnen dann wieder weniger Leute da, die Steuern zahlen, deshalb gibt es weniger Geld. Kann man das überhaupt noch stoppen?

Brücker: Man kann es nicht völlig stoppen, weil dahinter stecken sehr stark ökonomische Fundamentalkräfte. Das Einzige, was man tun kann, also wenn wir jetzt über Bundesländer reden, dass man versucht, dort mehrere solcher Kerne zu etablieren.

Also es kann nicht darum gehen, dass man das Land insgesamt versucht, zu retten, sondern dass man versucht, in den wenigen Städten, die es dort gibt, diese Agglomerationsvorteile zu erzielen, dass nicht ganze Bundesländer ausbluten. Das ist aus meiner Sicht das Einzige, was man tun kann. Aber der Trend wird im Grundsatz nicht zu stoppen sein.

Kassel: Professor Herbert Brücker sagt das vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg. Wir sprachen mit ihm über die zu erwartende demografische Entwicklung in Deutschland und den Umgang damit. Herr Brücker, vielen Dank!

Brücker: Ja, ich danke Ihnen!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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