Antikriegsroman

Wie Menschen zu Mördern geformt werden

Von Gregor Ziolkowski · 16.04.2014
Wie ein bedrohliches Ungetüm in der Ferne wird er inszeniert: der Erste Weltkrieg. Auch wenn der Krieg in dem Roman "Das Salz der Erde" kaum erwähnt wird, der 1976 verstorbene polnische Lyriker Joseph Wittlin rechnet mit ihm ab.
Man nimmt dieses Buch wahr als einen großen Abrechnungsroman über den Ersten Weltkrieg. In Wahrheit ist vom Krieg selbst kaum die Rede. Dass er ausgerufen wurde, dass er begonnen hatte, dass er irgendwie stattfand wie ein bedrohliches Ungetüm in der Ferne, das spürt man auch in jenem Dorf in Ostgalizien, wo der Bahnwärter Peter Niewiadomski seinen Dienst tut.
Der zivile Bahnverkehr wird praktisch eingestellt, stattdessen rollen Militärzüge mit Truppen und Kriegsmaterial durch den Ort. Gelegentlich kommen Nachrichten vom Kriegsverlauf in diese Hinterwelt, aber die sind in der Regel verworren, unübersichtlich zwischen offenkundiger Propaganda und tatsächlichem Geschehen. Der ganz und gar unbedarfte, des Lesens und Schreibens unkundige Held verdankt dem Kriegsausbruch zunächst seine Beförderung vom einfachen Bahnhofsträger zum Bahnwärter, der eine Schranke bedienen muss und eine hochoffizielle Dienstkappe tragen darf, weil sein Vorgänger einberufen wurde.
Im Verlauf des Romans schließlich erreicht auch ihn die Einberufung, die Handlung begleitet ihn während jenes Monats, da er vom "aufgestiegenen" Zivilisten zum Soldaten wird, auf irgendeinem Kasernenhof in Ungarn bereit gemacht für seinen Auszug zu den Schlachtfeldern, von denen selbst aber nur ihr vages Vorhandensein in den Text dringt.
Der Rückblick ist eine Mahnung
Was also trägt diese letztlich nicht allzu üppige Handlung? Neben den pointiert verdichteten Beschreibungen der Episoden und Lebensumstände dieses Peter Niewiadomski, die die Zeit porträtieren, sind es die Reflexionen eines "allmächtigen" Erzählers. "Die Unruhe verbreitete sich im südlichen Teil Polens erst Mitte August. Damals fiel in dieser Gegend zum ersten Mal das Wort "Evakuierung". Es kam aus den Städten geflogen, wo man es ausgrub, aus den dumpfigen Kellern der Vergessenheit auspackte, gemeinsam mit solchen Worten wie: Sieg, Niederlage, Gefangenschaft, Gefangene, Angriff, Heldentod. Diese längst verwitterten Ausdrücke, in Dunkelheiten eingeschlafen wie Fledermäuse - wurden in der frischen Luft rot und farbig und erstanden in den Mündern aller zu neuem Leben."
Ein greller sprachlicher Expressionismus gibt diesem Text seine sprühende Dynamik, eine Lust auf Verdichtung und am Suchen von Metaphern verleiht beinahe jedem Satz eine Energie der Weltbeschreibung, die mit souveräner Sicherheit ihr Ziel im Auge hat: Wie geht es zu, wenn Menschen zu Soldaten, zu tötungsbereiten Wesen geformt werden?
"Das Salz der Erde", erschienen 1935, liest man im Rückblick wie eine Mahnung. Das Schlimmere sollte erst noch kommen. Hat dieses "Schlimmere", das Joseph Wittlin im Exil erlebte, jene angekündigte Trilogie verhindert, von der dieser Roman der erste Teil sein sollte? Man kann da nur mutmaßen.

Joseph Wittlin: Das Salz der Erde
Aus dem Polnischen von Izydor Berman
Mit einem Nachwort von Martin Pollack
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2014
270 Seiten, 10,99 Euro