Anne Weber: "Kirio"

Ein Held, der die Welt auf Händen erkundet

Buchcover Anne Weber "Kirio"
Buchcover Anne Weber "Kirio" © dpa picture alliance/ ePA/ S. Fischer Verlag
Von Gabriele von Arnim · 06.03.2017
Anne Webers "Kirio" verwirrt und verzaubert den Leser gleichermaßen. Mit einem Erzähler, der keiner sein will. Und mit einer Hauptfigur, die ebenso schwer zu fassen ist. Herausgekommen ist ein heiter-leichter und ebenso kluger Roman.
Meist ist er es, der von Kirio erzählt, wenn dieses allwissende Wesen denn ein er ist oder überhaupt ein Wesen und nicht nur ein wirbeliger Luftgeist, ein Hauch, ein Atemzug.
Auf keinen Fall möchte er identifiziert werden, das heißt, er kann gar nicht identifiziert werden, da er selber nicht weiß, wer oder was er ist. Was er nicht ist, scheint er allerdings genau bestimmen zu können. Alle geahnten Versuche des Lesers, ihn auszumachen, ihn womöglich ins Netz einer Festlegung einzuschnüren, pariert er mit beredten Dementis.
Eines ist klar: Als Autor der Geschichte von Kirio möchte er/sie/es nicht gelten und so lesen wir ein gepuzzeltes Bild von unserem Helden, zusammengesetzt von denen, die ihm begegneten und von ihm erzählen.

Kirio ist so freundlich, dass er die Menschen verwirrt

Kirio ist ein wunderlicher Kerl -in einem Autobahntunnel ins Dunkle geboren und bald als der erkannt, der Licht in die Welt bringt. Auf seine Weise. Und die ist eigen. Er bewegt sich am liebsten auf Händen, spricht mit sieben Jahren seinen ersten Satz, lernt in der Schule -so weit er kann- und erträgt keine Autoritäten. Aber er ist so freundlich, dass er die Menschen verwirrt. Sogar die meisten Lehrer. Und verlässt ohnehin alsbald die Schule, um nach Süden zu wandern und zu fliegen -jawohl, der Wind nimmt ihn mit- um dort in einer Höhle zu leben, sich mit einem Postboten anzufreunden und mit Schwalben und Akazien zu sprechen. Später lernt er bei einer älteren Frau die körperliche Liebe so gründlich kennen, dass er flieht und der Stimme folgt, die ihn treibt nach Paris. Wo er auf acht Quadratmetern Wohnfläche fröhlich lebt, um die Menschen zu verrücken und zu versöhnen.
Der Held in Anne Webers gleichnamigen neuen Roman ist fast so wunderlich wie sein Erzähler. Allerdings (vermutlich) aus Fleisch und Blut. Ein Mensch. Und doch so wenig zu fassen mit den Markierungen, mit denen wir gemeinhin ein Menschsein umgrenzen.
Kirio ist zwar von dieser Welt aber eben auch nicht. Er geht nicht nur auf Händen (und stellt so die Welt auf den Kopf) und weht mit dem Wind - er ist ein Mensch gemacht aus Ferne, Einsamkeit, Staunen und absichtsloser Güte. Ein heutiger Heiliger?
Immerhin kann er angeblich Wunder vollbringen und hat mehrere Menschen vor dem Tode bewahrt. Auch einen Selbstmörder, dem der Sprung aus dem dritten Stock gleich zweimal nicht gelingen will.

Die Fantasie als Erzählerin?

Einen so heiter leichten und klugen Roman hat Anne Weber vielleicht noch nie geschrieben. Sie spielt mit Möglichkeiten des Seins in einer möglichen Wirklichkeit. Lässt ihre Fantasie - ist sie, die Fantasie, vielleicht die Erzählerin? - schweben und flattern, um zugleich immer wieder die reflexive Bodenhaftung zu suchen.
Manche Wortspielereien, denen die Autorin nicht widerstehen kann und kleine Wiederholungen beeinträchtigen nicht das Glück der Lektüre.
Wir erkennen das Leben, seine Vielfalt und seine engen Gassen und ahnen, wie wir uns zeitweise befreien könnten von Korsett oder Fessel. Ist Kirio der Narr, den wir uns manchmal im Taumel der Welt herbeisehnen? Der uns den Spiegel vorhält, in dem wir nicht nur uns erkennen, sondern in dem der Blick sich schweifend ausdehnt in neue Weiten.

Anne Weber: "Kirio"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017
224 Seiten, 20,00 Euro