Ambivalentes Abhängigkeitsverhältnis zweier Schwestern

05.02.2007
In ihrem ersten Roman erzählt Silke Scheuermann aus dem coolen Milieu junger Großstadtneurotiker, die ihren Gefühlen grundsätzlich misstrauen. Sie schildert eine emotionale Höllenfahrt mit kühlem Blick und feinem Sensorium für Zwischentöne. Das macht die intensive Spannung dieser Prosa aus.
Die "Stunde zwischen Hund und Wolf", die der Titel verspricht, bezeichnet den Augenblick eines Kontrollverlustes, einen Ausraster, etwas Fremdes, das plötzlich an einem herumzuzerren beginnt. Die tierische, auf Instinkt gründende Herkunft des Menschen, die in seinem zivilisierten Gesellschaftsdasein unkenntlich wird, bricht dann mit Macht hervor.

Die 1973 in Karlsruhe geborene Silke Scheuermann hat sich mit Gedichten und Erzählungen bereits einige Anerkennung erworben. In ihrem ersten Roman erzählt sie aus dem coolen Milieu junger Großstadtneurotiker, die ihren Gefühlen grundsätzlich misstrauen. Im Mittelpunkt stehen zwei Schwestern: Ines ist als Künstlerin mit einigen Ausstellungen berühmt geworden. Sie leidet aber an einer zerstörerischen Alkoholsucht, die nicht nur ihre künstlerische Kreativität, sondern auch ihre Freundschaften zerstört.

Die um vier Jahre jüngere Ich-Erzählerin ist vor kurzem erst aus Rom nach Frankfurt gezogen. In Rom war sie verheiratet, das ist vorbei, mehr will sie nicht sagen: "Genug der intimen Details." Sie schreibt Reportagen für eine Zeitschrift, fürchtet aber ständig, jemand könnte ihr zu nahe treten. In ihrer neuen Wohnung lässt sie die Stimme der Vormieterin auf dem Anrufbeantworter, eine akustische Maske, hinter der sie sich verbirgt. Doch sie wirkt keineswegs ängstlich, sondern eher selbstbewusst, angenehm schnoddrig und unsentimental. Ihrer Schwester Ines gegenüber, früher Papas Liebling, empfindet sie eine an Hass grenzende Aversion.

In einem Hallenbad am frühen Morgen begegnen die beiden sich nach vielen Jahren wieder. Alles, was die Prosa von Silke Scheuermann so bemerkenswert macht, fließt hier zusammen. In der kühlen Atmosphäre von Glas und Wasser verschieben sich die Perspektiven. Manche Details rücken in erschreckende Nähe, andere erscheinen verschwommen und undeutlich. Die Körper, auf die der Blick fällt, wirken schonungslos nackt; die weiße Haut schimmert im Neonlicht fast bläulich. Dies ist kein Ort für Annäherungen. Hier zieht jeder einzeln seine Bahnen. Über sich selbst sagt die Ich-Erzählerin: "Ich bin nichts, nichts als ein heller Umriss an diesem Morgen, auf dem schmalen Korridor zwischen Becken und Glasfront."

Was sich von hier aus entwickelt, ist die dramatische Geschichte von Ines‘ Sucht und von den ambivalenten, vielfach sich spiegelnden Abhängigkeitsverhältnis der beiden Schwestern. Eher verbindend als trennend steht Ines‘ Freund Kai zwischen ihnen, der bald zum Geliebten der Ich-Erzählerin wird: Sie trösten sich aneinander und helfen sich so über ihre Überforderung hinweg. Im Dreiecksverhältnis überlagern sich die Gefühle und die Motive des Handelns. Die Hilfe, die Ines bekommt, ist nicht selbstlos, denn mehr und mehr übernimmt die Erzählerin deren Platz.

Man kann die Geschichte als Rettungsaktion, aber auch als Verdrängung, ja Vernichtung lesen. Zärtlichkeit und Mitleidslosigkeit sind kaum zu unterscheiden. Als Ines nach einem Sturz im Suff im Krankenhaus liegt, bringt ihr die Erzählerin eine Flasche Whiskey mit. Am Ende fährt sie mit ihr zur Entziehungskur in eine abgelegene Klinik, schafft sie damit weg und erzeugt zugleich eine nie dagewesene Nähe.

Silke Scheuermann schildert diese emotionale Höllenfahrt mit kühlem Blick und feinem Sensorium für Zwischentöne. Das macht die intensive Spannung dieser Prosa aus. Die Gefühle bleiben immer unter der Oberfläche der Ereignisse und unter der Oberfläche der Sprache verborgen. Das Unausgesprochene sichtbar zu machen ist ihre große Leistung. Scheuermann stellt die ganz großen Fragen: Was ist der Mensch? Was ist das richtige Leben? Doch all das geschieht unter der glatten Oberfläche der Unberührbarkeit. Es ist so, wie es sich am Anfang die Schwimmerin vorstellt, die mit einem Kopfsprung tief ins Wasser eintauchen, dabei aber "die Oberfläche so wenig wie möglich aufwühlen" möchte.

Rezensiert von Jörg Magenau

Silke Scheuermann: Die Stunde zwischen Hund und Wolf
Schöffling & Co, Frankfurt/Main 2007
172 Seiten, 17,90 Euro