Am mütterlichen Sterbebett

09.01.2008
Jean Paul Sartre hielt "Ein sanfter Tod" für das beste literarische Werk seiner Lebensgefährtin Simone de Beauvoir. Die französische Philosophin und Schriftstellerin setzt sich in dem Band auf eindrucksvolle Weise mit dem Sterben ihrer Mutter auseinander. Zum 100. Geburtstag ist das Buch in einer neuen Auflage erschienen.
"Ein sanfter Tod" – (im Original gar: "Une mort très douce"): diese wohlmeinenden Worte einer Krankenschwester hat Simone de Beauvoir als euphemistischen Titel für die Erzählung über ihre sterbende Mutter gewählt. Die Schriftstellerin beschreibt detailliert die letzten Wochen der schwer krebskranken Frau in einer vornehmen Pariser Klinik. Schonungslos schildert de Beauvoir nicht nur die Qualen ihrer Mutter - auch die Routine, mit der Ärzte ihr gewohntes Pensum abspulen und Zweifel von Angehörigen ignorieren:

"Man gerät in ein Räderwerk, ohnmächtig gegenüber der Diagnose, den Vermutungen und Entscheidungen der Spezialisten. Der Kranke ist ihr Eigentum geworden. Den soll ihnen erst einmal jemand entreißen!"

Über das Protokoll des Krankenhausalltags hinaus widmet sich Simone de Beauvoir in diesem Buch dem Lebenslauf ihrer Mutter. Im Angesicht des Todes ändert sich ihr Verhältnis, sie stellt Fragen nach der eigenen Beziehung zum Tod und seiner Rolle in der Gesellschaft. "Ein sanfter Tod" ist ein sehr persönliches Buch, das jedoch eine allgemeingültige und hochaktuelle Auseinandersetzung mit menschenwürdigem Sterben ist. Erstmalig in deutscher Übersetzung 1968 als Taschenbuch erschienen, will die edition ebersbach nun mit ihrer gebundenen Ausgabe ein Buch würdigen, das Jean Paul Sartre für das beste literarische Werk seiner Lebensgefährtin hielt.

Nach einem Sturz in ihrer Wohnung bricht sich die 77-jährige Francoise de Beauvoir den Schenkelhalsknochen und wird ins Krankenhaus eingeliefert. Der Bruch soll zuerst in Ruhelage verheilen, doch aufgrund anhaltender Darmbeschwerden und Verdacht auf eine Bauchfellentzündung wird die alte Dame bald operiert. Dabei entdecken die Ärzte eine weit fortgeschrittene Krebserkrankung, die der Patientin verschwiegen wird. Die glaubt mit kindlicher Ergebenheit an die Worte der Ärzte und an eine baldige Genesung. Trotz ihres fortschreitenden Verfalls und starker Schmerzen zwingt sie sich unter größter Anstrengung, Nahrung zu sich zu nehmen und demütigende Behandlungen zu überstehen. Die Schwestern Simone und Helene, die ihre Mutter im Wechsel Tag und Nacht liebevoll betreuen, sind Teil dieses doppelten Spiels. Während die Mutter glaubt, sie nähmen Anteil an ihrem mühevollen Heilungsprozess, hoffen die beiden in Wirklichkeit auf den erlösenden Tod:

"Sie ruhte und träumte, unendlich weit von ihrem faulenden Fleisch entfernt; ihre Ohren waren voll von unseren Lügen, und ihr ganzes Wesen konzentrierte sich um eine leidenschaftliche Hoffnung: zu genesen. Ich hätte ihr gern weitere unnütze Qualen erspart."

Simone de Beauvoir setzt den drastischen Schilderungen aus dem Krankenhausalltag Skizzen und Porträts ihrer Mutter als heranwachsendes Mädchen, Frau und Ehefrau gegenüber. Sie zeichnet dabei das Bild eines Menschen, der – geprägt von einer strengen katholischen Erziehung und eingezwängt von Verboten, Ritualen, Traditionen - zeitlebens gegen eigene Wünsche und Bedürfnisse angekämpft hat. Nun, im Angesicht des Todes, ist sie weicher, schlichter, erbarmungswürdiger, weil Worte und Gesten wahrhaftiger und unmittelbarer werden. In ihrem starken Überlebenswillen weigert sich die Todkranke zum Beispiel, einen Priester zu empfangen. Simone de Beauvoir, selbst vom Glauben längst abgefallen, kommt ihrer Mutter immer näher, empfindet gar große Zärtlichkeit für sie:

"Ich war an diese Sterbende gebunden … nahm das Zwiegespräch wieder auf, das während meiner Jugend abgebrochen war und das wir aufgrund unserer Gegensätze und unserer Ähnlichkeit nie wieder hatten aufnehmen können."

Die Veränderungen im Verhältnis der Autorin zu ihrer Mutter, ebenso wie im Blick auf Alter und Tod, wie sie in einer konsumorientierten Gesellschaft bis heute tabuisiert und verdrängt werden, dokumentiert auch der Stil dieses Buches. Während am Anfang eine kühle, fast protokollartige Diktion herrscht, wandelt sich der Tonfall zunehmend zu einer fast leidenschaftlichen, emphatischen Sprache und zu der Erkenntnis: "Einen natürlichen Tod gibt es nicht: … für jeden Menschen ist sein Tod (...) ein Unfall und ein unverschuldeter Gewaltakt." Die Kombination von schonungsloser Beschreibung, kühl-rationaler Analyse und großer Emotionalität macht den literarischen Reiz dieses Buches aus.

"Ein sanfter Tod"(1964 im Original erschienen), ist der erste von zahlreichen autobiografischen Texten, in denen sich Simone de Beauvoir explizit mit dem Themenkomplex Alter und Tod beschäftigte. In diesem Kontext ebenfalls zu nennen ist eines der letzten Bücher von de Beauvoir "Zeremonie eines Abschieds" (1981) - über die letzten Monate und Gespräche mit Jean-Paul Sartre. Und vor allem der Essay "Das Alter" (1971), woraus Auszüge nun in einem lesenswerten neuen Lesebuch ("Ich will vom Leben alles", Hg. Susanne Nadolny, edition ebersbach) mit Texten von Simone de Beauvoir zu finden sind. Dort heißt es:

"Für die Gesellschaft ist das Alter eine Art Geheimnis, dessen man sich schämt und über das zu sprechen sich nicht schickt. (…) Und das ist der zentrale Grund, warum ich dieses Buch schreibe: um die Verschwörung des Schweigens zu brechen."

Rezensiert von Olga Hochweis

Simone de Beauvoir: Ein sanfter Tod, Erzählung
edition ebersbach
120 Seiten, 18 Euro

Simone de Beauvoir: Ich will vom Leben alles - Ein Lesebuch (Essays, Reiseberichte, Briefe, Memoiren)
edition ebersbach
Mit einem Vorwort von Susanne Nadolny (Hg.)
230 Seiten, 22 Euro