Alltag in der DDR

Die Wochenkrippen-Kinder

29:58 Minuten
Sie sehen einige Frauen in Dresden 1974, davor Kinderwagen und viele Kleinkinder.
Kinder in der DDR in den 70ern © imago / Ulrich Hässler
Von Lotta Wieden · 22.02.2017
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Viele DDR-Kinder verbrachten ihre Kindheit in Wochenkrippen, mit oft weitreichenden Folgen. Forschungsergebnisse, die auf die Nachteile für die Entwicklung der Kinder hinwiesen, unterdrückte die DDR. Heute arbeiten Betroffene und Forscher die Folgen auf.
Wochenkrippen-Kinder. Die meisten von ihnen dürften heute zwischen 40 und 60 Jahre alt sein. Wie viele es genau gewesen sind? Niemand weiß es. Denn bislang gibt es kaum Untersuchungen zu diesem Thema. Eigene Hochrechnungen zeigen jedoch, dass auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zwischen 1949 und 1989 Hunderttausende von Säuglingen und Kleinstkindern werktags in Heimen betreut wurden.
Die DDR in den 50er-Jahren: Der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft hat begonnen. Es gilt die Sechs-Tage-Woche, auch für Mütter. Artikel 7 der noch jungen Verfassung lautet: "Mann und Frau sind gleichberechtigt. Alle Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen, sind aufgehoben". Doch die Gleichberechtigung gilt nur für Frauen und nur am Arbeitsplatz. Die Frage, wer sich um die Kinder kümmert, trifft besonders alleinerziehende Mütter.
Am 04.04.1972 findet in der Universität Jena eine Lehrlingswerbung für Schreibkräfte statt.
Bis 1965 galt in der DDR die 6-Tagewoche auch für Mütter © picture alliance / Universität Jena

Forschung unter Druck

Innerhalb von fünf Jahren, so das Gesetz, sollen auf dem Gebiet der DDR 160.000 Kindergartenplätze, 40.000 Kinderkrippenplätze und 60.000 Heimplätze für Kleinstkinder entstehen. In der Folge steigt allein die Zahl der Wochenheimplätze für Säuglinge und Kleinstkinder, später Wochenkrippen genannt, von 2.500 im Jahr 1950 auf etwa 14.300 im Jahr 1955. Zehn Jahre später, 1965, weist die Statistik bereits 37.900 Wochenheimplätze für Kinder unter drei Jahren aus. Begleitet wird der Ausbau von einer massiven Werbekampagne. Bis Mitte der 60iger Jahre werden Wochenkrippen als gleichwertige, wenn nicht bessere Alternative zur familiären Betreuung gepriesen.
Mitte der 50er-Jahre beginnt die Ostberliner Humboldt-Universität mit den ersten wissenschaftlichen Untersuchungen zur Entwicklung von Krippenkindern in der DDR. Leitende Ärztin ist die spätere Direktorin des Instituts für Hygiene des Kindes- und Jugendalters in Berlin, Eva Schmidt-Kolmer. Sie lässt die Entwicklung von mehr als 1.700 Kindern zwischen null und drei Jahren dokumentieren, zur Stichprobe gehören auch 440 Wochenkrippen-Kinder. Untersucht wird, wie gut sich die Kinder im Raum orientieren und bewegen können und wie weit ihr Sprachvermögen und Sozialverhalten entwickelt ist. Die Ergebnisse dieser Untersuchung offenbaren gravierende Defizite bei den Wochenkrippenkindern - in allen getesteten Bereichen.

Die Mama als Fremde

Nur wenige Jahre später sind solche Interpretationen fast vollständig aus der DDR-Forschungsliteratur verschwunden. Auch über Formen des Hospitalismus: ausdruckslos vor sich hinstarrende Kleinkinder, die ihren Oberkörper vorwärts und rückwärts schaukeln oder ihren Kopf im Gitterbett immer wieder hin und herdrehen, darf nach dem Mauerbau nicht mehr geschrieben werden.
René Grünewald verbrachte seine ersten Lebensjahre in einer Wochenkrippe. Wie prägend diese Zeit für den heute 46-Jährigen war, lässt sich heute nur schwer sagen. Eigene Erinnerungen daran hat er nicht. Wohl aber an den Tag als seine Heimzeit plötzlich endet:

Ich war dreieinhalb Jahre im Wochenheim und ich kann mich an den Tag erinnern, wo mir gesagt wurde, dass ich nicht mehr ins Wochenheim muss. Das ist ein Tag, wo ich allein auf einem Berliner Hinterhof mit meinem Dreirad fahre, auf einem Garagenhof. Und schleifenartig vor mich hin rede, dass diese Frau meine Mama ist und dass ich hier wohne. Das war ein sehr unwirkliches Gefühl, weil diese Frau, die mich zur Welt gebracht hat und mich dann bei sich aufgenommen hat, für mich eine fremde Frau war.

Versprechungen der DDR-Gesellschaft

Waren DDR-Eltern besonders herzlos? Karsten Laudien, der als Professor an der Evangelischen Hochschule Berlin zur Geschichte und Aufarbeitung der DDR-Heimerziehung forscht, ist skeptisch. Man dürfe nicht vergessen, dass die DDR gerade für Frauen ein großes Versprechen bereithielt: das Versprechen auf Mitgestaltung, berufliche Selbstbestimmung und finanzielle Unabhängigkeit. Moderne Frauen, die nicht von vornherein auf einen Platz in der Gesellschaft verzichten wollten, gingen - anders als im Westen - selbstverständlich arbeiten. Und schließlich: Auch der Blick aufs Kind habe sich gehörig verändert: Vom Objekt elterlicher Gewalt zu einem Subjekt, dessen optimale Entwicklungschancen für viele Eltern heute im Zentrum ihres Daseins stünden. Der Rest war Ideologie.
Eine ältere Hand hält eine Kinderhand.
Die Bindungstheorie wurde in der DDR unterdrückt© imago | Chromorange
Bis in die 80er-Jahre hinein wird die Bindungstheorie in der DDR unterdrückt, eine Theorie die davon ausgeht, dass jedes Kind ein angeborenes Bedürfnis nach intensiver, emotionaler Nähe hat. Und sich ohne eine solche Nähe, nicht optimal entwickeln kann. Immerhin wird die direkte Werbung für die Wochenkrippe in der DDR ab Mitte der 60iger Jahre deutlich zurückgefahren. Was bleibt ist das Idealbild der Vollberufstätigkeit beider Eltern und die Doppelbelastungen für Frauen.
Die Pädagogin und Dozentin Ute Stary geht von einer Klientel von mehreren Hunderttausend aus, die in Wochenkrippen untergebracht waren und heute zwischen 40 und 60 Jahre alt sind. Sie wollte schon als Studentin wissen: Welche Folgen hatte die DDR-Wochenkrippenbetreuung? Eine Frage, der sie in zahlreichen Einzelinterviews nachgegangen ist:
"Sie schildern schwierige Beziehungsverhältnisse zu ihren leiblichen Eltern, dass sie das eher als angespannt empfinden, dieses Verhältnis, dass man sich auch ein stückweit fremd ist. Und dass sie selber Schwierigkeiten haben, in Beziehung zu kommen, sich auf Partnerschaften einzulassen und vor allen Dingen ihren eigenen Kindern gerecht zu werden."

Kompetenzvorsprung der Erzieherinnen

Die Ergebnisse ihrer Untersuchung hat Ute Stary in einem Fachbuch publiziert. Weitere Forschungsarbeiten zum Thema Wochenkrippe gibt es in Deutschland bislang nicht. Schade, sagt Ute Stary, wäre doch hilfreich, jetzt, wo das Bundesfamilienministerium kräftig in 24-Stunden-Kitas investiert und in die sogenannte Randzeitenbetreuung, abends und nachts.
1968 erscheint in der DDR das Handbuch "Pädagogische Aufgaben und Arbeitsweisen der Krippen". Das Buch enthält verbindliche Erziehungsaufgaben für jedes einzelne Lebensvierteljahr der Kinder. Mit seiner Hilfe wird das pädagogische Programm in den Kinder- und Wochenkrippen zunehmend vereinheitlicht. Überall im Land gelten die gleichen Tagespläne. Die Erzieherinnen haben "darauf einzuwirken", dass die Schlaf- und Essenszeiten auch an den Wochenenden eingehalten werden. Betont wird die "zwingende Notwendigkeit" eines einheitlichen Vorgehens zwischen Krippe und Elternhaus. So wächst mit jedem Monat der Kompetenzvorsprung der Erzieherinnen im Umgang mit dem eigenen Kind.
Forscher Laudien: "Keine Generation glaubt, dass sie Schlechtes macht. Sondern man gibt sich immer Mühe. Alle Menschen glauben und wollen auch glauben, dass das schon so ist wie sie es machen wollen. Die Frage ist immer, ob man daran interessante Gedanken knüpfen kann: Ob man das heute auch machen würde. Und warum man das heute nicht machen würde. Kann man damit leben, dass wir heute andere Maßstäbe haben - ohne andere zu verurteilen? Kann man das aussöhnen?"
(gekürzte Onlinefassung: thg)

Das Manuskript zur Sendung als PDF-Dokument und als barrierearmes Textdokument.

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