"Ärzte ohne Grenzen"-Chef Westerbarkey

"Jeder einzige gezielte Angriff ist einer zu viel"

Beschädigtes Schild eines Krankenhauses von Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan (November 2015). Damals hatten die USA ein Krankenhaus zerstört.
Beschädigtes Schild eines Krankenhauses von Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan (November 2015). Damals hatten die USA ein Krankenhaus zerstört. © dpa / picture-alliance / Mohammad Jawad
Volker Westerbarkey im Gespräch mit Dieter Kassel · 05.04.2016
Die Bombardierung eines Krankenhauses im afghanischen Kundus durch die USA im vergangenen Jahr dokumentiere "eine neue Qualität von Angriffen", beklagt Volker Westerbarkey. Der Chef von "Ärzte ohne Grenzen" fordert ein offenes Bekenntnis aller Länder zu den Genfer Konventionen.
Dieter Kassel: In Berlin findet heute die Frühjahrskonferenz der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen statt, und sie steht unter der Überschrift "Medical Care under fire", zu Deutsch: Medizinische Hilfe unter Beschuss, und das ist keine Übertreibung oder auch nur Zuspitzung. Es gab in jüngster Vergangenheit mehrere Angriffe auf Krankenhäuser in Konfliktgebieten. Volker Westerbarkey ist selbst Arzt für Ärzte ohne Grenzen in verschiedenen Ländern unterwegs gewesen und ist inzwischen der Vorstandsvorsitzende der deutschen Sektion der Organisation. Schönen guten Morgen, Herr Westerbarkey!
Volker Westerbarkey: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Der Angriff auf das Krankenhaus in Kundus im vergangenen Oktober, der ist vielen sicherlich noch in Erinnerung. Ich habe vorhin aber auch schon Angriffe auf Krankenhäuser in Syrien, dem Jemen und im Südsudan erwähnt. Sind das sich häufende Einzelfälle oder ist die Arbeit von Ärzten in Krisengebieten generell gefährlicher geworden?

"Eine große Menge an Angriffen auf Krankenhäuser"

Westerbarkey: Ich glaube, was wir vor allem an dem Angriff in Kundus gesehen haben, ist eine neue Qualität von Angriffen, dass die Armee einer Supermacht eines unserer Krankenhäuser, ein wohlbekanntes Krankenhaus, angreift und komplett zerstört. Das hat uns massiv erschüttert, das ist in 40 Jahren unserer Existenz nicht passiert und zeigt eine neue Qualität.
olker Westerbarkey spricht während der Gedenkstunde für die Opfer des Angriffs in Kundus am 3. November 2015 in Berlin
Volker Westerbarkey spricht während der Gedenkstunde für die Opfer des Angriffs in Kundus am 3. November 2015 in Berlin© imago/Markus Heine
Im Gegensatz dazu gibt es in Syrien vor allem und aber auch im Jemen, wie Sie sagen, also zahlreiche, so eine große Menge an Angriffen auf Krankenhäuser, dass wir schon davon ausgehen, dass die Gefahren sich für uns geändert haben und dass wir auf jeden Fall das so wahrnehmen, dass wir größere Gefahren kalkulieren müssen und damit umgehen müssen bei unserer Arbeit.
Kassel: Es geht also zunehmend nicht um, wie man das euphemistisch immer nennt, Kollateralschäden, also Angriffe, bei denen einfach billigend in Kauf genommen wird, dass auch medizinische Einrichtungen getroffen werden, sondern es geht tatsächlich auch darum, dass sie konkret das Ziel dieser Angriffe sind.

"Jeder einzige gezielte Angriff ist einer zu viel"

Westerbarkey: Ja, wir sind natürlich als humanitäre Helfer keine Völkerrechtsorganisation, die Angriffe analysieren kann und kriegstechnisch die Angreifer identifiziert, aber es gibt klare Fälle wie in Kundus, da kann man, glaube ich, nicht viel diskutieren, aber auch in Syrien einige Angriffe, wo wir nach all dem, was wir wissen, klar davon ausgehen müssen, dass die Angriffe auch gezielt sind. Das mag nicht für jeden Angriff zutreffen, aber sicherlich für einige, und jeder einzige gezielte Angriff ist schon einer zu viel, denn eigentlich hatten wir uns als Menschen darauf geeinigt, dass wir Menschen in Not nicht angreifen, Krankenhäuser nicht angreifen und das als Teil der Menschlichkeit auch im Konflikt aufrechterhalten wollen.
Kassel: Nun gibt es Genfer Konventionen, auf die sich die Welt eigentlich geeinigt hat, die Organisationen wie Ihre und auch alle anderen vor solchen Angriffen schützen und die ganz klar sagen, sie sind keine Kriegspartei und dürfen gar nicht angegriffen werden. Sind das inzwischen nur noch wertlose Worte auf dem Papier?
Westerbarkey: Die Genfer Konventionen sind für uns natürlich sehr, sehr wichtig. Das internationale Völkerrecht, wie Sie schon genau oder richtig geschildert haben, schützt uns in unserer Arbeit. Wir fragen uns jetzt aber, warum kommt es nicht mal dazu, dass die Konfliktparteien sich noch mal offen dazu bekennen. Dieser doch relativ einfache Schritt, wenigstens sich noch mal zu dem zu bekennen, was vereinbart worden ist, das fehlt sicherlich und lässt zweifeln, ob die meisten Konfliktparteien noch die Genfer Konventionen wirklich unterstützen.
Genauso geht es darum, dass wir die Angriffe unabhängig untersuchen müssen, um wirklich herauszubekommen, was ist passiert, er ist schuldig und warum ist es zu den Angriffen gekommen.

"Wichtig: Über unsere Arbeit vor Ort zu kommunizieren"

Kassel: Nun sind natürlich Helfer wie auch die von Ärzte ohne Grenzen grundsätzlich neutral in allen Konflikten, in denen sie eingesetzt werden, aber bei Konflikten, an denen heutzutage oft dutzende verschiedener Parteien beteiligt sind, ist es nicht zunehmend schwerer, das auch wirklich zu zeigen und allen klarzumachen, dass man neutral ist?
Westerbarkey: Das ist eine unserer Herausforderungen. Wir haben also neben der eigentlichen humanitären Arbeit, der oft medizinischen Arbeit, ist es mehr und mehr wichtig für uns geworden, auch über unsere Arbeit vor Ort zu kommunizieren, denn eigentlich richten wir unsere Arbeit danach aus, wer die höchsten Bedürfnisse hat und versuchen nicht immer ein ethnisches Gleichgewicht oder ein politisches Gleichgewicht in unserer Hilfe aufrechtzuerhalten, aber das rückt mehr und mehr in den Vordergrund.
Ich glaube, für uns ist es ganz, ganz wichtig, und das erleben wir immer wieder – ich war gerade in Pakistan über die Osterfeiertage –, wir können eigentlich am besten durch unsere Arbeit überzeugen. Leute, die unsere Arbeit vor Ort kennenlernen, die kennen unsere Neutralität, wissen unsere Neutralität zu schätzen, aber diejenigen, die nicht direkt vor Ort sind, die zweifeln oft daran und nutzen auch unsere Arbeit für ihre politischen Interessen.
Kassel: Was kann man dagegen tun ist natürlich die Frage, zu der wir jetzt kommen müssen, und lassen Sie uns die mal aufteilen: Das eine ist politisch, das andere ist Ihr Alltag. Wie schützen Sie denn Ihre Helfer? Müssen Sie inzwischen sagen, wir brauchen nicht nur das Geld für den eigentlichen Einsatz, sondern auch für zusätzliche Schutzmannschaften?

"Wir achten auf die Nationalität unserer Mitarbeiter"

Westerbarkey: Für Schutzmannschaften sicherlich nicht. Das allerwichtigste – und ich habe es gerade schon angesprochen – ist, dass wir bei unserer Arbeit uns darauf konzentrieren, dass die Arbeit gut ist, dass sie neutral ist und unparteilich, dass sie jedem zugutekommt und eigentlich durch ihre Taten überzeugt. Das ist, glaube ich, ein größerer Schutz als alle Vereinbarungen oder technischen Ausrüstungen.
Darüber hinaus ist es für uns Standard, bevor wir in ein Projekt gehen, dass wir mit allen Konfliktparteien vor Ort, mit allen Gruppierungen sprechen und Sicherheitsgarantien verhandeln. Dann gibt es natürlich auch, wie Sie sprechen, technische Finessen. Das sind jetzt nicht unbedingt Schutztruppen, sondern wir machen ein sogenanntes Profiling, dass wir gucken, welche Mitarbeiter schicken wir an welchen Ort. Da achten wir auf die Nationalität unserer Mitarbeiter, auf das Geschlecht unserer Mitarbeiter.
Wie in Syrien müssen wir auch oft darauf zurückgreifen, dass wir nicht direkt dauerhaft vor Ort sind, wie es eigentlich unser Ziel ist, sondern dass wir manchmal unsere Projekte mehr aus der Ferne kontrollieren und nur in kleinen Stippvisiten die Arbeit kontrollieren und leiten, um die Gefahr für unsere Mitarbeiter zu minimieren.
Kassel: Ist das nicht eine unglaublich schwierige auch Gewissensentscheidung, ob man einen notwendigen Hilfseinsatz aufgrund der Gefährdung wahlweise abbricht oder ihn gar nicht erst beginnt?

"Natürlich ändern sich auch die Bedürfnisse der Menschen"

Westerbarkey: Absolut, und Sie haben gesagt, ich bin im Vorstand von Ärzte ohne Grenzen, das ist einer unserer am häufigsten diskutierten Entscheidungen: Was überwiegt mehr, die Sicherheit der Mitarbeiter, die natürlich an allererster Stelle steht, aber das ist auch keine Schwarz-Weiß-Entscheidung, oder die Notwendigkeit der Menschen vor Ort. Das sind immer sehr, sehr schwierige Entscheidungen, und die werden im Einzelfall getroffen und müssen auch regelmäßig wieder angepasst werden, denn zum einen ändert sich die Gefahrlage vor Ort, und zum anderen ändern sich natürlich auch die Bedürfnisse der Menschen vor allem mit der Dauer des Konflikts.
Kassel: Volker Westerbarkey von Ärzte ohne Grenzen über die zunehmende Gefährdung solcher Hilfseinsätze und den Umgang damit. Ich danke Ihnen sehr und wünsche Ihnen viel Glück für die Zukunft! Dankeschön!
Westerbarkey: Vielen Dank!
Kassel: Wir haben mit ihm gesprochen, weil heute dieses Thema, die Gefährdung solcher Einsätze und seiner Mitarbeiter, Thema ist auf der Frühjahrskonferenz von Ärzte ohne Grenzen in Berlin.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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