Abrechnung mit der Führungsriege im Nazi-Regime

Von Volker Ullrich · 20.11.2005
Der Nürnberger Prozess brachte nicht nur die einzigartigen Verbrechen des Regimes ans Licht. Mit ihm wurde zugleich ein neues Kapitel des Völkerrechts aufgeschlagen. Erstmals mussten sich Repräsentanten eines Staates, der einen Angriffskrieg geführt und schwerste Verbrechen gegen die Menschheit verübt hatten, vor Gericht verantworten. Ein historisches wie aktuelles Thema.
Der Verhandlungssaal des Nürnberger Justizpalastes war in gleißendes Licht der Neonlampen und Filmscheinwerfer getaucht, als die Angeklagten am 20. November 1945, kurz vor 10 Uhr, auf zwei Bänken Platz nahmen. Lange Zeit waren die Alliierten unsicher gewesen, wie sie mit den ehemaligen Machthabern des Nazi-Regimes umgehen sollten. Anfang August 1945 hatten sie sich auf ein Statut für das Internationale Militärtribunal verständigt und als zentrale Anklagepunkte festgelegt: Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit. Die Wahl Nürnbergs als Schauplatz des Prozesses war von hoher symbolischer Bedeutung: Hier hatten die jährlichen Reichsparteitage stattgefunden, und der Name der Stadt war verknüpft mit den Rassegesetzen vom September 1935.

Am zweiten Verhandlungstag rief der Vorsitzende des Tribunals, der Brite Sir Geoffrey Lawrence, die Angeklagten einzeln auf, sich im Sinne der Anklage für "schuldig" oder "nicht schuldig" zu erklären. Als erster ist Hermann Göring an der Reihe.

"Bevor ich die Frage des Gerichtshofs beantworte, ob ich mich schuldig oder nicht schuldig bekenne."

Doch weiter kommt er nicht. Richter Lawrence schneidet ihm das Wort ab: Die Angeklagten dürften jetzt keine Reden halten. Der Reichsmarschall, einst zweitmächtigster Mann nach Hitler, ist verblüfft. Eine solche Behandlung ist er nicht gewohnt. Wütend stößt er hervor:

"Ich bekenne mich im Sinne der Anklage nicht schuldig."

Und so, mit leicht variierter Wortwahl, bekannten sich alle 21 Angeklagten, einer nach dem anderen, als "nicht schuldig". Der Prozess gegen die "Hauptkriegsverbrecher" dauerte 218 Verhandlungstage. Die Anklage hatte ein erdrückendes Beweismaterial zusammengetragen. 240 Zeugen wurden gehört; Tausende von eidesstattlichen Erklärungen geprüft. Eine von den Amerikanern installierte Anlage ermöglichte es, dass jedes Wort der Verhandlungssprachen - Englisch, Französisch, Russisch, Deutsch - simultan übersetzt und zugleich auf Band gespeichert wurde - eine technische Weltneuheit.

Der Prozess war aber auch ein Medienereignis ersten Ranges. 400 Reporter aus über 20 Nationen verfolgten ihn. Erika Mann, die Tochter Thomas Manns, war als amerikanische Korrespondentin in Nürnberg akkreditiert.

"Die ungeheuer gewissenhafte und manchmal vielleicht beinahe pedantische Art, mit der die ungeheure Fülle von Tatsachenmaterial ruhig und undramatisch präsentiert ist, hat, glaube ich, ihre großen Vorzüge im Angesicht der Geschichte."

Die Angeklagten konnten sich mit Hilfe eigener Anwälte verteidigen und sich ausführlich zu den erhobenen Anschuldigungen äußern. Dennoch war für viele Deutsche das Nürnberger Verfahren nichts als "Siegerjustiz".

Bis zuletzt blieben die Angeklagten bei ihrer Strategie, sich selbst zu entlasten, indem sie alle Schuld auf Hitler und Himmler abwälzten. Noch in seinem Schlusswort am 31. August 1946 bestritt selbst Göring, irgendetwas vom Massenmord an den Juden gewusst zu haben:


"Dass ich diese furchtbaren Massenmorde auf das Schärfste verurteile, und mir jedes Verständnis hierfür fehlt, stelle ich ausdrücklich fest. Ich möchte es aber hier noch einmal vor dem Hohen Gericht klar aussprechen: Ich habe niemals, an keinem Menschen und zu keinem Zeitpunkt, einen Mord befohlen und ebenso wenig sonstige Grausamkeiten angeordnet oder geduldet, wo ich die Macht und das Wissen gehabt hatte, solche zu verhindern."

Nur Albert Speer, Hitlers Lieblingsarchitekt und Rüstungsminister, leugnete seine Mitverantwortung nicht. Dadurch konnte er die Richter für sich einnehmen, und das rettete ihm das Leben.

Am 1. Oktober 1946 wurden die Urteile verkündet: zwölf Angeklagte wurden zum Tod durch den Strang verurteilt, darunter in Abwesenheit Martin Bormann, Hitlers Sekretär, sieben Angeklagte erhielten Haftstrafen von zehn und 20 Jahren bis lebenslänglich. Drei Angeklagte - Hitlers "Steigbügelhalter" Franz von Papen, der Bankier Hjalmar Schacht und der Rundfunkpropagandist Hans Fritzsche - wurden freigesprochen. Die Todesurteile wurden am 15. Oktober in der Turnhalle des Nürnberger Justizpalastes vollstreckt. Göring gelang es, sich kurz vor der Hinrichtung das Leben zu nehmen.

Der Nürnberger Prozess - und die Nachfolgeprozesse gegen die gesellschaftlichen Eliten des "Dritten Reiches" - waren ein Meilenstein in der Entwicklung des Völkerrechts. Zum ersten Mal mussten sich die Repräsentanten eines Staates, der einen Angriffskrieg geführt und schwerste Verbrechen gegen die Menschheit verübt hatten, vor einem Gericht verantworten. Das war von großer, zukunftsweisender Bedeutung.