Abgehalfterter Anwalt des Guten

Rezensiert von Maike Albath · 11.01.2006
Viele beliebte Krimi-Figuren agieren derzeit in Italien. Der Staatsanwalt Gianrico Carofiglio fügt mit seinem leicht verschrobenen Strafverteidiger Guido Guerreri eine weitere Figur hinzu und setzt Apulien als Landschaft ein. Nebenbei entwirft Carofiglio ein Sittengemälde des zeitgenössischen Italiens.
Liebhaber italienischer Krimis müssen ihre Landkarte um einen Handlungsort erweitern: während in Venedig weiterhin Donna Leons Commissario Brunetti am Werk ist, im sizilianischen Vigáta Camilleris unverwüstlicher Montalbano Verbrechern nachjagt, in Bologna Lucarellis magenkranker Kommissar De Luca verwickelte Fälle aufklärt, in Palermo Santo Piazzeses kinoversessener Biologe La Marca dunklen Machenschaften nachspürt und in Triest Veit Heinichens Polizist Proteo Laurenti skrupellosen Menschenschleppern das Handwerk legt, erfindet der 1961 geborene Staatsanwalt Gianrico Carofiglio einen Rechtsanwalt, der in Bari in Aktion tritt.

Apulien, bisher terra incognita in der italienischen Krimilandschaft, bildet den Hintergrund für Carofiglios Serie, deren erster Band jetzt unter dem Titel Reise durch die Nacht auf Deutsch erscheint.

Sein Strafverteidiger Guido Guerrieri ist ein abgehalfterter Typ: eine Zigarette im Mundwinkel, Freizeitboxer, gut aussehend und mit allen Wassern der Kleinkriminalität gewaschen, schlägt er auf den ersten Seiten einen cool-nuschelnden Tonfall an, der den Leser an amerikanische Privatdetektive erinnert, wie man sie von Hammett oder Chandler kennt.

Dazu passt auch Guerrieris Kundschaft: seine Kanzlei wird von schmierigen Imbissbudenbetreibern ohne Gewerbeschein, kleinen Betrügern und gewalttätigen Ehefrauen frequentiert, aber sein Job hängt ihm mittlerweile zum Hals raus, und als ihn seine Gattin Sara auch noch aus der gemeinsamen Wohnung wirft, bricht die sorgfältig einstudierte Pose langsam in sich zusammen.

Sie habe es satt, von ihm hintergangen zu werden, lautet Saras Begründung: Nicht seine Untreue sei das Problem, sondern die Tatsache, dass er sie für dumm verkaufe. Der gepeinigte Avvocato stimmt ihr insgeheim zu, packt stillschweigend seine Sachen und lässt innerhalb von einer Viertelstunde eine zehnjährige Ehe hinter sich. So zynisch sich der 38-jährige Anwalt gibt - irgendwo im Untergrund spürt man eine tiefe Fassungslosigkeit.

Ausgerechnet in der größten Sommerhitze wird er bald darauf von einer Depression überrollt: Panikattacken auf der Straße, Schlaflosigkeit, Weinkrämpfe und unüberwindbare Angst vor Fahrstühlen quälen den hartgesottenen Strafverteidiger. Aber er verzichtet auf Psychopharmaka, geht stattdessen wieder zum Boxtraining und nimmt einen neuen Fall an. Der völlig aussichtslose Schwurgerichtsprozess eines senegalesischen Straßenverkäufers namens Abdou Thiam, der des Mordes an einem kleinen Jungen bezichtigt wird, wird für Guido Guerrieri zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst.

Reise in die Nacht spielt etwa im Jahr 2000; es handelt sich um die Zeit, als die afrikanischen Einwanderer allmählich Teil der italienischen Gesellschaft wurden. Fast nebenbei entwirft Gianrico Carofiglio ein Porträt seines Heimatlandes und erfasst immer wieder die Atmosphäre: Es herrscht eine diffuse Ausländerfeindlichkeit, Respektlosigkeit den Institutionen gegenüber gehört zum guten Ton, und allerorten ist ein Mangel an bürgerlichen Tugenden zu bemerken.

Der Mandant seines Helden ist von Beruf Grundschullehrer, beherrscht drei Sprachen und übt den Beruf des Straßenverkäufers, für den er sogar eine Genehmigung hat, aus schierer Not aus: Der Handel erlaubt ihm, seine Familie in Afrika zu unterstützen. Als Guido Guerrieri die Verteidigung übernimmt, ist die Verurteilung des Senegalesen, der immer wieder seine Unschuld beteuert, nahezu sicher, denn alles spricht gegen ihn.

Abdou Thiam war zur fraglichen Zeit am Tatort gesehen worden, er war mit dem Jungen befreundet und bewahrte Zuhause ein Foto von ihm auf, und obwohl er vorgibt, an dem entscheidenden Tag in Neapel gewesen zu sein, kann er keine Zeugen benennen. Pädophilie und eine triebhafte Kurzschlusshandlung seien die Erklärung, behauptet der Staatsanwalt und plädiert für eine lebenslängliche Strafe. Aber sein Rechtsanwalt legt eine beeindruckende Hartnäckigkeit an den Tag und verfolgt unbeirrbar seine Verteidigungsstrategie.

Reise in die Nacht ist ein spannender Krimi, ein Sittengemälde des zeitgenössischen Italien und ein Lehrstück über die italienische Justiz, und nicht zuletzt ist es auch die Geschichte einer Genesung. Denn nach und nach lässt Carofiglio seinen Helden sich selbst auf die Spur kommen; ohne übertriebene Psychologisierungen schildert er, wie jemand über die Beschäftigung mit einem fremden Schicksal zu den verschütteten Anteilen der eigenen Person vordringt.

Ebenso wie Andrea Camilleri und Santo Piazzese veröffentlicht Gianrico Carofiglio seine Krimis im palermitanischen Verlagshaus Sellerio. Mit seinem Erstling, der 2002 im Original heraus kam, landete er einen großen Erfolg.

Dass das ganze Land seit Anfang der 90er Jahre vom Krimifieber ergriffen ist, hängt mit den schwerwiegenden gesellschaftlichen Umbrüchen zusammen, die sich in der Folge der Mani-pulite-Aktion der Mailänder Richter abzeichneten. Damals waren Parteispendenaffären und Korruptionsskandale ans Licht gekommen, was den Glauben an die Politik stark erschütterte.

In einem Land, in dem der Regierungschef fortwährend von der Justiz belangt wird und mafiöse Verstrickungen an der Tagesordnung sind, braucht es starke Gegenbilder. Zumindest in der Literatur versucht man, rechtsstaatliches Verständnis und den Sinn für das Gemeinwohl zu stärken. Denn die Helden der italienischen Krimiautoren sind vor allem eins: aufgeklärte Bürger, die sich für die Gerechtigkeit einsetzen. Übrigens hat Carofiglios Avvocato eine überaus sympathische Eigenschaft: Er ist ein eifriger Leser und hoffnungslos literatursüchtig.


Gianrico Carofiglio: Reise in die Nacht
Aus dem Italienischen von Claudia Schmitt.
Goldmann Verlag, 286 Seiten, 19, 95 €