Ab 130 km/h steigt der Schutzengel ab

Von Anne Boschan · 10.10.2009
Bikergottesdienste sind mittlerweile keine Seltenheit mehr. Motorradfahrer treffen sich auf der grünen Wiese, auf dem Kirchenvorplatz oder in der Kirche, um gemeinsam einen Gottesdienst zu feiern. Am Anfang des Sommers bittet man um Schutz und gute Fahrt, am Ende der Saison danken die Biker für gutes Wetter, tolle Erlebnisse und eine unfallfreie Fahrt. Und sie gedenken derjenigen, die diese Saison nicht überlebt haben. In Lübeck ist es die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Motorradfahrer (ACM), die zweimal jährlich zum Bikergottesdienst einlädt.
Samstag Mittag, 13.30 Uhr, die Herbstsonne scheint auf die Paul Gerhardt Kirche in Lübeck. Vor dem Gotteshaus stehen ca. 70 Motorräder auf der Wiese - aufgereiht nebeneinander. Etwas abseits ein Grillstand mit Bratwurst und Brötchen. In der Kirche gibt's Kaffee und Kuchen. Nach und nach kommen weitere Motorräder und Fahrer hinzu, sie reihen sich auf der Wiese ein.

Zahlreiche Männer, Frauen und Kinder in schwarzen Lederhosen und Westen, den Motorradhelm unter den Arm geklemmt, umarmen und begrüßen sich. Sie treffen sich zum letzten Gottesdienst in diesem Jahr - zum letzten Bikergottesdienst.

Konrad Detlef Erwin Biehler: "Das ist der letzte. Wir haben nur zwei Gottesdienste hier in Lübeck. Einmal im Frühjahr den Begrüßungsgottesdienst, den großen, den wir so mit zwei- bis drei-, viertausend Motorrädern veranstalten und dann eben den kleinen übersichtlichen. Also ich mag ihn lieber, weil er so familiär ist, jetzt den Abschlussgottesdienst im Herbst."

Sagt Erwin Biehler, unter Motorradfreunden kurz Ede genannt. Auch er trägt Leder, ein schwarzes Hemd mit Weste darüber und ein gelbes Tuch um den Hals. Er engagiert sich in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Motorradfahrer Lübeck und hat diesen Motorradgottesdienst mitorganisiert.

"Man trifft sich, man redet Benzin, dann ist irgendwann der Gottesdienst, der ein bisschen anders ist als normal, als üblich und danach gibt's die Ausfahrt."

Benzin reden heißt: Austauschen über die neuesten Teile am Motorrad und der Rückblick auf die vergangene Saison, auf Erlebtes. Immerhin haben sich viele der hier Anwesenden den ganzen Sommer über nicht gesehen, aber unter Bikern kennt man sich einfach. Denn: Sie sind eine Gemeinde, eine Gemeinschaft, zumindest empfindet Astrid Korek so.

"Die normale Gemeinde hält ja eigentlich schon zusammen, bei den Motorradfahrern ist das noch mal eine Steigerung. Die sind so füreinander da, das ist so ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Ich fühlte mich hier gleich aufgenommen."

Die kleine grauhaarige Dame ist 58 Jahre alt und selbst keine Motorradfahrerin. Lederhose und Fransenweste trägt sie trotzdem. Sie scheint die gute Seele der Gemeinschaft zu sein, eine zentrale Person. Jeder Neuankömmling begrüßt sie freundlich.

Der nächste Biker kommt an, Kennzeichen DA, Darmstadt, ein weiter Weg.

"Hallo, Morjen. Ich komm hinterher, einfach in die Reihe stellen."
"Auch ein Bändchen? dann mal viel Spaß. Grill, Kuchen, alles da".
"Prima danke"

Nachdem die Maschine ordentlich eingereiht ist, befestigt der Biker das lila Band an seinem Blinker. Es ist ein Erkennungszeichen unter Motorradfahrern und heißt soviel wie: Ja, ich war auch beim Motorradgottesdienst in Lübeck.

Mit dem Neuankömmling betritt auch eine ältere Dame in bester Sonntagskleidung die Kirche. Margarete Wechselbaum ist neugierig.

"Ja, ich bin hier zu Besuch, weil mein Sohn mitfährt ... Ich lass mich überraschen wird bestimmt gut."

Dass es gut wird, dafür ist auch Pastor Michael Bethke verantwortlich. Der ältere Herr mit grauem Haar und Brille ist im Ruhestand, lässt sich die Predigt und die gemeinsame Ausfahrt allerdings nicht entgehen. Er betont die Besonderheiten eines Bikergottesdienstes.

"Es werden Biker angesprochen, die Gottesdienste sind anschaulicher. Die Problematiken sind griffiger. Sie werden aufgehängt an Alltagserfahrungen des einzelnen Menschen und hauptsächlich an Erfahrungen, die bei Motorradfahrern gemacht werden. U. a. haben wir das Thema Zentrum. So wie ein Rad ein Zentrum hat, so brauchen wir Menschen auch ein Zentrum; oder wir haben einen Gottesdienst gemacht über Licht und Reflektion."

Für ihn bedeutet jeder Saisonabschlussgottesdienst auch die Verpflichtung zum Dank.

"Dieser Gottesdienst ist ein so genannter Dank- und Gedächtnisgottesdienst. Wir sagen Gott Dank dafür, dass er uns bewahrt hat in der vergangenen Saison."

Dass es auch ein Gedenkgottesdienst ist, symbolisieren unter anderem die Motorradhelme, die die Fahrer jetzt auf die Altarstufen legen. Langsam füllt sich die Kirche. Ungefähr 150 Männer, Frauen und Kinder nehmen Platz. Die Farbe schwarz dominiert. Leder- und Zigarettengeruch liegt in der Luft. Die Bikes stehen vor der Tür.

Pastor Bethke: "Bikes brauchen keinen Gottesdienst, die Biker brauchen einen Gottesdienst. Es geht um den Menschen, wir segnen Menschen, keine Motorräder."

Der ökumenische Bikergottesdienst in Lübeck beginnt. Thema ist: Anhalten - Innehalten. Gleich zu Beginn wird innegehalten und derer gedacht, die in dieser Saison verunglückt sind.

Symbolisch bringen alle eine Kerze zum Altar und zünden sie an. Pastor Bethke spricht in der Predigt von Ruhe und Einkehr in den Herbst- und Wintermonaten und von der Besinnung auf Gott. So wie man den Motor beim Bremsen auskoppelt, um ihn zu schonen, ist ein Auskoppeln aus dem Alltag nötig, um neue Spannkraft zu sammeln.

Nach Klarinettenspiel mit Applaus, dem Vaterunser, der Fürbitte, dem Glaubensbekenntnis, einigen Liedern und Lesungen aus der Bibel und dem Segen geht der Bikergottesdienst zu Ende. Langsam werden die Besucher unruhig und rutschen erwartungsvoll hin und her: die Ausfahrt steht an. Nach dem letzten Orgelstück ist kein Halten mehr. Die Helme werden vom Altar geholt, die Kirche leert sich. Margarete Wechselbaum, die ältere Dame im Sonntagsanzug, tritt lächelnd auf die Wiese.

"Ich fand's super. Hat mir sehr gut gefallen, also ich hab das richtig genossen Ja, die musikalische Begleitung auch mit der Kerze nach vorne, also, da ich eine sehr gläubige Katholikin bin, hat's mir auch sehr gut gefallen."

Astrid Korek verlässt als letzte die Kirche, die meisten Biker sind schon unterwegs zur Sammelstelle. Sie wird nicht mitfahren - muss sie auch nicht, sagt sie. Der Gottesdienst hat für sie schon so seinen Zweck erfüllt.

"Auch wenn viele hier sind, die nicht so gläubig sind: Man hat trotzdem immer das Gefühl, wenn die rausgehen, haben sie so ein bisschen was mitgenommen. Sie fühlen sich ein bisschen beschützter, irgendwie."

Ein bisschen beschützter ist der Tross der Motorradfahrer nun auf dem Weg durchs Lübecker Umland. Nach der Ausfahrt werden sie wieder in alle Himmelsrichtungen verschwinden. Aber: Sie sehen sich wieder. Spätestens Mitte April im neuen Jahr - zum Frühjahrsgottesdienst in Sankt Marien in Lübeck. Und dann werden sie wieder um eine sonnige und unfallfreie Saison bitten.