70. Geburtstag von Gidon Kremer

Die große Kunst der visionären Interpretation

Der Geiger Gidon Kremer bei einem Auftritt mit dem Orchester Kremerata Baltica. Aufgenommen wurde das Bild in der Columns Hall während des Mstislav Rostropovich International Festival. Kremer hat die Violine im linken Arm eingeklemmt, dort befindet sich auch noch der Bogen. Vor ihm ist ein Notenständer aufgebaut. Im Hintergrund sind einige Musiker zu sehen.
Der aus Lettland stammende Geiger Gidon Kremer wird heute 70 Jahre alt. Hier musiziert er mit seinem Ensemble Kremerata Baltica. © dpa / picture alliance / Sputnik
Nicolas Altstaedt im Gespräch mit Mascha Drost · 27.02.2017
Musizieren mit Gidon Kremer ist eine außergewöhnliche Erfahrung, sagt der Cellist Nicolas Altstaedt. Der Geiger, der heute 70 Jahre alt wird, sei ein visionärer Interpret. Zugleich habe sich Kremer den stets frischen und unverstellten Zugang zu einem Werk bewahrt.
Einer der bedeutendsten klassischen Musiker unserer Zeit wird heute 70 Jahre alt: der lettische Geiger Gidon Kremer. Er ist kein Musiker, bei dem man sich entspannt zurücklehnen und vom Geigenklang betören lassen kann - im Gegenteil: Kremer scheint beim Spielen unter Hochspannung zu stehen – und der Zuschauer mit ihm. Der Geiger geht an klangliche Grenzen und an die Grenzen der Musik an sich.
Der Cellist Nicolas Altstaedt hat gemeinsam mit Kremer viele Konzerte bestritten. Er leitet seit 2011 als dessen Nachfolger das Kammermusikfestival im österreichischen Lockenhaus. Altstaedt beschrieb im Deutschlandradio Kultur Kremers besonderen Zugang zu musikalischen Werken:
"So muss sich jeder Künstler vor einer Partitur jedes Mal wieder die wesentlichen Fragen stellen und neu hören. Und Gidon ist jemand, der diese Reinheit und Naivität protegiert und für sich schützen konnte. Und so jedes Mal frisch an ein Werk heran gehen kann."

Als Interpret denkt er stets voraus

Kremer sei kein Provokateur um der Provokation willen, sagt Altstaedt über Kremers Haltung zur Musik. Er interpretiere Musik so, wie er sie fühle: mit Intuition, Neugierde und der Begeisterung für die Musik:
"Und er ist auch ein Visionär. Er war vielen einfach einen Schritt voraus. Er hat in vielen Werken etwas gesagt, wo viele Leute noch nicht nachgekommen sind. Und so ergeht es auch mir. Wenn wir im Konzert gemeinsam gespielt haben, habe ich manchmal nicht verstanden: Warum beginnt er diese Phrase so? Was macht er dort? Und dann ist mir erst acht Takte später aufgefallen, warum er das so gemacht hat. Man ist erstaunt und dann versteht man, wie er voraus denkt. Da ist er Visionär. Und das ist auch ein Merkmal von ihm als Interpret."

Offen für Vorschläge und großzügig

Wie verläuft das Zusammenspiel mit einem so freiheitsliebenden Künstler? Es sei aufregend und einfach zugleich, meint Altstaedt:

"Ich liebe die Freiheit genau so wie er. Er ist jemand, auf den der Satz 'Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenken' besonders zutrifft. Gidon ist jemand, der unvoreingenommen ist und immer erst nimmt – im positiven Sinne – bevor er gibt. In den Proben nimmt er einfach sehr viele Vorschläge auf. Er nimmt sehr viel wahr, was um ihn herum geschieht. Er ist sehr großzügig. Er verarbeitet alles, was er hört. Und dann gibt er unheimlich viel von sich selber – um der Musik willen. Insofern ist Musizieren mit ihm ist eine sehr außergewöhnliche Erfahrung, die sehr inspirierend und auch umarmend ist. Er strahlt immer nur von innen heraus."
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