"50 Prozent der Lerninhalte rauswerfen"

Moderation: Leonie March · 06.03.2008
Der Bamberger Bildungssoziologe Fritz Reheis hat eine grundlegende Reform des deutschen Schulwesens gefordert. In der Schule werde ohne Rücksicht auf Verluste versucht, den Kindern Wissen, Können und Einstellungen aufzudrücken, sagte Reheis. Dabei bleibe die Bildung auf der Strecke.
Leonie March: Nicht nur in Hessen soll die Reform jetzt reformiert werden. Heute berät die Kultusministerkonferenz darüber. Über die Vorschläge aus den Ländern spreche ich jetzt mit dem Pädagogen Dr. Fritz Reheis. Er lehrt Bildungssoziologie an der Universität Bamberg und hat im vergangenen Jahr ein Buch zum Thema veröffentlicht, "Bildung kontra Turboschule" heißt es. Guten Morgen, Herr Reheis!

Fritz Reheis: Guten Morgen, Frau March!

March: Viele Bundesländer wollen ja jetzt die Lehrpläne überarbeiten und abspecken. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?

Reheis: Sicherlich, da muss gewaltig entschlackt werden. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, 50 Prozent der Lerninhalte rauswerfen. Das ist sowieso nur Wegwerfwissen, das für Prüfungen gepaukt wird und anschließend von den Schülern entsorgt wird, also gar nicht mehr verfügbar ist. Anstelle dieser 50 Prozent, die weglassbar wären, von vornherein weglassbar wären, sollten die Kinder und die Lehrer zusammen selbst ihre Lernprojekte, gewissermaßen ihre Lehrpläne schreiben. Projektarbeit machen, die Fragen verfolgen, die ihnen als wichtig erscheinen.

March: Geben Sie uns mal ein Beispiel. Auf was kann im Unterricht konkret ruhig verzichten?

Reheis: Na ja, da gibt es viele Beispiele. Das in der Hinsicht interessanteste Fach ist das Fach Geschichte, denke ich. Geschichte wird im Fachjargon als Klofach bezeichnet. Man lernt für das Klo oder auf dem Klo, je nachdem. In Geschichte müssen sich Zwölfjährige wochenlang mit dem Hin und Her des Investiturstreits im Mittelalter, mit dem Machtkampf zwischen Kaiser und Papst auseinandersetzen, ohne nur ansatzweise verstehen zu können, wofür das eigentlich wichtig sein soll.

March: Aber bei dieser Entschlackung der Lehrpläne besteht da die Gefahr, dass gerade Fächer wie Kunst und Musik zusammengestrichen werden, die für eine umfassende Bildung durchaus wichtig sind?

Reheis: Ja, das wäre natürlich gerade falsch. Ich sage ja, Wegwerfwissen muss rausgeworfen werden. Und die Potenziale der Kinder, die liegen ja nicht nur im kognitiven Bereich, sondern auch im handwerklichen Bereich, im künstlerischen Bereich, im sozialen Bereich. Diese Potenziale müssten im Mittelpunkt unserer Bemühungen stehen und gefördert werden. Dafür müsste allerdings der Schulalltag eine ganz andere Zeitstruktur bekommen. Man müsste wegkommen von diesen unsäglichen 45-Minuten-Portionen hin zu größeren Einheiten wie gesagt der Projektarbeit, der Eigenarbeit und natürlich auch des Lernens außerhalb des Schulgebäudes. Eine Ganztagesschule würde unter Umständen so aussehen können, dass die Kinder weniger im Schulhaus sind als bisher in der Halbtagesschule. Die Schule müsste sich öffnen für das Leben rund um die Schule herum.

March: Bislang soll sich an der Zahl der Unterrichtsstunden ja anscheinend nichts ändern. Die Kultusminister wollen aber heute darüber sprechen, wie die Abfolge der Stunden verändert werden kann, sodass die Schüler entlastet werden. Was würden Sie ihnen in diesem Punkt raten?

Reheis: Na ja, wenn man so kleinschrittig vorgehen will und nach der Abfolge der Stunden fragt, dann kann man sich ja an der Grunderkenntnis der Lernpsychologie orientieren, dass Menschen möglichst unterschiedliche Tätigkeiten hintereinanderschalten sollen, damit es im Gehirn keine sogenannte Ähnlichkeitshemmung gibt, damit im Gehirn bestimmte Belastungen sich nicht über die Gebühr hinziehen, sondern wieder andere Regionen im Gehirn belastet werden. Das heißt, das Stichwort rhythmisierte Ganztagesschule ist natürlich auf alle Fälle richtig, aber es geht noch nicht weit genug. Es müssen sich kognitive künstlerische, handwerkliche, sportliche Aktivitäten ja genug abwechseln können. Und der Wechsel müsste auch zum Teil von den Schülern selbst gestaltet werden können und nicht von einem Plan, der für alle von oben herab vorgegeben wird.

March: Im Bericht aus Hessen klang es ja eben an, der Unterricht zieht sich inzwischen bis in den Nachmittag. Echte Ganztagsschulen allerdings, mit einer Kantine zum Beispiel, sind die meisten Gymnasien nicht. Ist das ein wesentliches Manko?

Reheis: Ja, was heißt wesentlich? Ich kritisiere ja die Diskussion, die sich immer nur auf G8 und G9 beschränkt. Ich sage, die Schule insgesamt, so wie sie organisiert ist, und zwar seit vielen Jahrzehnten ist eine Turboschule. Sie presst, sie versucht, muss man sagen, Wissen, Können und Einstellungen in die Köpfe, Herzen und Hände der Kinder hineinzupressen ohne Rücksicht auf Verluste. Und dabei bleibt die Bildung in einem etwas anspruchsvolleren Sinn regelmäßig auf der Strecke. Das ist der eigentliche Skandal. Und ob acht oder neun Jahre, ist eher sekundär. Und ob der Schulbetrieb um zwölf Uhr oder um 14 Uhr endet, ist auch eine nachrangige Frage.

March: Aber sehen Sie da einen Prozess des Umdenkens auch in der Politik bei den Kultusministern?

Reheis: Ich befürchte, dass das Umdenken noch viel zu wenig weit geht. Natürlich haben die Kultusminister das Gefühl, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Diese Ergebnisse werden ja ständig zitiert. PISA ist für mich kein Maßstab, jedenfalls kein ausschlaggebender Maßstab. Es muss nachgedacht werden, es wird nachgedacht. Aber dieses Nachdenken ist einfach zu wenig grundlegend. Es berücksichtigt nicht, was wir mittlerweile wissen, aus der Reformpädagogik wissen, auch praktiziert wird in reformpädagogischen Schulen, seit Langem praktiziert wird. Und was mittlerweile auch durch die Hirnforschung und durch andere wissenschaftliche Erkenntnisse klar auf der Hand liegt.

March: Das heißt, die Kinder und Jugendlichen bekommen kein gutes Rüstzeug auch für die Zukunft?

Reheis: So ist es. Der größte Skandal ist ja, dass die Kinder in der Schule immer nur Fragen beantworten müssen, die sie selbst gar nicht gestellt haben. Schule müsste ein Ort sein, wo die Fragen der Kinder im Zentrum stehen, ihre Fragen systematisch beantwortet werden. Die Lehrer sind dazu da, ihnen dabei zu helfen. Und so ist Schule bisher leider überhaupt nicht aufgezogen.

March: Sie waren ja selbst 20 Jahre lang Gymnasiallehrer. Sind Sie froh, dass Sie es heute unter diesen politischen Voraussetzungen nicht mehr sind?

Reheis: Die politischen Voraussetzungen haben sich für mich nicht so dramatisch geändert. Ich bin froh, dass ich es nicht mehr bin, obwohl ich ganz gern Lehrer war. Aber ich bin deshalb froh, dass ich es nicht mehr bin, weil ich an der Universität einfach mehr Möglichkeiten habe, die Weichen etwas in eine andere Richtung zu stellen, als ich das als Lehrer konnte. Als Lehrer musste ich funktionieren, hatte minimale Spielräume und war deshalb immer nur zur Hälfte zufrieden mit dem, was ich getan habe.

March: Dr. Fritz Reheis ist Bildungssoziologe an der Universität Bamberg und Autor des Buches "Bildung kontra Turboschule". Danke Ihnen für das Gespräch!

Reheis: Ja, Danke schön, Frau March!