31. Internationale Stummfilmtage in Bonn

"Ich halte Stummfilme für sehr aktuell"

Szene aus dem Stummfilm "Nosferatu" mit Max Scheck (li) aus dem Jahre 1922.
Tonloser Klassiker: der Film "Nosferatu" aus dem Jahre 1922 © imago / AGD
Stefan Drößler im Gespräch mit Patrick Wellinski · 01.08.2015
Sind tonlose Filme ein Relikt vergangener Zeiten? Stefan Drößler, der Leiter der Internationalen Stummfilmtage Bonn, hält sie nach wie vor für zeitgemäß. Auf seinem Festival zeigt er Wiederentdeckungen und verkannte Meisterwerke.
Patrick Wellinski: Nächsten Donnerstag beginnen die 31. Internationalen Stummfilmtage in Bonn. Es ist in dieser Kategorie eine der wichtigsten Veranstaltungen für den Stummfilm in Deutschland, aber auch in Europa. Die Spannbreite ist sehr groß. Von ewigen Klassikern wie Buster Keaton und Charlie Chaplin bis hin zu weitgehend unbekannten Werken aus China und Japan. Um über die aktuelle Ausgabe zu sprechen, ist mir der Leiter der Stummfilmtage zugeschaltet, Stefan Drößler. Guten Tag!
Stefan Drößler: Schönen guten Tag!
Wellinski: Herr Drößler, woher kommen bei Ihnen eigentlich der Reiz und das intensive Engagement für den Stummfilm, der ja unter gewissen Gesichtspunkten ein Relikt beziehungsweise eine bedrohte Gattung ist?
"Der Tonfilm war zunächst ein Rückschritt"
Drößler: Mich faszinieren die Stummfilme, weil sie vor allem sehr visuell arbeiten. Das heißt, die Erzählkunst durch Bilder war zumindest zum Ende der Stummfilmzeit sehr, sehr hoch entwickelt. Der Tonfilm war dann mal erst ein Rückschritt. Die Stummfilmzeit als Relikte zu bezeichnen, das sehe ich nicht ganz so. Immerhin besteht fast die Hälfte unseres filmischen Erbes aus Stummfilmen, und ich halte sie für sehr aktuell. Und Sie können das auch sehen: Wenn diese Filme mit Livemusik heute aufgeführt werden, finden die durchaus ihr Publikum.
Wellinski: In der Ankündigung zu der diesjährigen Ausgabe der Stummfilmtage heißt es, dass die Stummfilmtage auch immer wieder neue Premieren zeigen. Aber wie definiert denn das Stummfilmfestival eine neue Premiere? Ist das dann immer eine neue Kopie, eine neu restaurierte Fassung?
Drößler: Tja. Bei den Stummfilmen verengt sich immer alles auf einen Kanon. Für viele Leute besteht die Stummfilmzeit nur aus Chaplin, "Metropolis" und noch bestimmten anderen sehr populären Titeln. Die kann man natürlich zeigen, und wir zeigen die in Bonn auch, aber für uns ist es interessant, Filme zu zeigen aus Ländern, die wenig bekannt sind, und auch Filme, die in der Filmgeschichtsschreibung inzwischen völlig vergessen sind, die aber durchaus die Wiederentdeckung lohnen. Und insofern sind die Premieren dann oft genau diese Titel, die kein Mensch mehr gesehen hat seit 80 Jahren, und die jetzt, neu restauriert, wieder auf die Leinwand gebracht werden können.
Wellinski: Können Sie uns denn da ein, zwei Beispiele aus dem diesjährigen Programm geben?
Drößler: In dem diesjährigen Programm haben wir zum Beispiel frühe Stummfilme aus Griechenland und aus der Ukraine, zwei Ländern, die sehr in den Medien vertreten sind, die aber als Länder mit Stummfilmen, also wo schon Filme in den 20er-Jahren produziert worden sind, kaum bei uns bekannt sind. Und der ukrainische Film "Zwei Tage" ist eine wirkliche Entdeckung, ein verkanntes Meisterwerk, das in den Archiven geschlummert hat.
Die Musik macht den Unterschied
Wellinski: Ich würde Sie gerne nach der Reaktion des Publikums in Bonn fragen, welche Erfahrungen Sie denn damit gemacht haben, weil es mir persönlich schon häufiger passiert ist, dass ich Stummfilme mit einem großen Publikum gesehen habe, und ich habe gemerkt, dass dann zum Beispiel bei Murnaus "Nosferatu" sehr häufig gelacht worden ist an Szenen, wo man sich durchaus bewusst ist, dass das nicht zum Lachen geeignet war. Ist denn das Sehen von Stummfilmen schon eine vergessene Kulturfähigkeit?
Drößler: Ja, also ich würde jetzt einfach kontern und sagen, das lag dann daran, weil keine adäquate Musikbegleitung den Film vermittelt hat dem Publikum. Das ist ein großes Handicap beziehungsweise eine ganz wichtige Aufgabe, dass man einen Musiker hat, der den Film ernst nimmt und quasi die Brücke schlägt auch zum Publikum. Und wenn Sie mir erzählen, dass bei "Nosferatu", einem sehr, sehr starken Film die Leute wirklich gelacht haben, dann bin ich mir absolut sicher, dass die Musik die Ernsthaftigkeit des Films nicht entsprechend unterstrichen hat. Wir merken in den Bonner Stummfilmtagen sehr wohl, dass für einige Leute es sehr ungewohnt ist, zumal doch der Eintritt frei ist und die Leute einfach so mal reinschauen.
Das heißt, das ist kein Festival, wo nur das Fachpublikum zusammensitzt und sich Stummfilme anschaut, sondern das ist eine Veranstaltung, die offen ist für jeden. Und das sind sehr oft Leute, die gar nicht mehr ins Kino gehen, die dort in diese Veranstaltungen kommen und inzwischen auch jedes Jahr sich ihre Sommerferien so planen, dass sie die Filme des Stummfilmfestivals mitbekommen. Das ist das, was gerade auch die Musiker sehr schätzen, die bei uns spielen. Und die Auswahl der Musiker und Filme erfolgt sehr sorgfältig. Wir wählen nicht jeden Stummfilm aus, sondern Filme, von denen wir sehr überzeugt sind, dass sie ein Potenzial haben auch, das große Publikum zu erreichen. Und dann diskutieren wir das sehr intensiv mit einem Stamm von sehr guten Musikern, die wir kennen, wer zu diesem Film den besten Zugang findet und dies auch mit seiner Musik vermitteln kann.
Verschollenes Welles-Fragment wird aufgeführt
!Wellinski:!! Sie selbst werden bei den Stummfilmtagen mehr als sonst eine zentrale Rolle spielen: Am 9. August, also nächsten Sonntag, zeigen Sie einen Film von Orson Welles, der als verschollen galt. Das passt sehr gut ins Jubiläumsjahr, Orson Welles wäre dieses Jahr 100 Jahre alt geworden. Es ist eine Shakespeare-Verfilmung, "Der Kaufmann von Venedig". Können Sie sagen, wie Sie diesen Film ausfindig gemacht haben und was Sie jetzt alles tun müssen, um ihn zu zeigen.
Drößler: Vielleicht muss ich kurz erläutern, wir zeigen sonntagnachmittags immer im Landesmuseum in Bonn Filme, spezielle Filme, die nur digital vorliegen, und haben Vorträge, in denen darüber gesprochen wird, wie Filme aufgearbeitet, restauriert oder rekonstruiert werden. Es wird nicht der fertige Film gezeigt, der wird erst wahrscheinlich beim Filmfestival in Venedig zu sehen sein. Dieser Film existiert nur in Fragmenten. Orson Welles hat ihn nie beendet. Wir haben in München den Nachlass von Oja Kodar, der Mitarbeiterin von Orson Welles, die die Filme der letzten 20 Jahre seines Lebens alle dem Filmmuseum München übergeben hat. Und wir haben jetzt weltweit nach weiteren Fragmenten gesucht und haben in Italien einiges gefunden und kombinieren dies nun auch mit alten Tonaufnahmen von Orson Welles und mit der Musik, die der Komponist für diesen Film schon geschrieben hatte, die dann aber nie richtig zum Einsatz kam, zu einem Werk, das versucht, den ursprünglichen Intentionen von Orson Welles gerecht zu werden.
Wellinski: Stefan Drößler. Er ist Leiter der Internationalen Stummfilmtage in Bonn. Und die Stummfilmtage beginnen nächsten Donnerstag und gehen dann noch bis zum 16. August. Und für alle, die nicht in Bonn sein können, zeigt das Filmmuseum München ausgewählte Filme der Filmtage im September noch einmal.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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