200 Jahre Waterloo

Wir feiern keine Schlachten, wir hören lieber Abba

Angehörige der britischen Armee proben für ein Reenactment der Schlacht von Waterloo.
Angehörige der britischen Armee proben für ein Reenactment der Schlacht von Waterloo; Aufnahme vom Juni 2015 © picture alliance / dpa / Sgt Rupert Frere Rlc / British M
Von Günter Müchler · 18.06.2015
Waterloo ist ein Ort in der Nähe von Brüssel. Hier nahm vor 200 Jahren die Herrschaft Napoleons ihr Ende, als Engländer und Preußen ihn und seine Truppen besiegten. Erstaunlich, wie entspannt wir heute daran denken, findet der Journalist Günter Müchler.
Hätte Napoleon gewonnen, in Frankreich würden heute die Champagnerkorken knallen, wahrscheinlich in einer Tour bis zum Quatorze Juillet. Die Marseillaise würde gesungen bis zum Umfallen, und der Präsident der Republik würde eine Rede halten vor einem Pariser Bahnhof mit dem Namen Mont-Saint-Jean; denn so nannte Napoleon das Schlachtfeld unweit von Brüssel in einer, so Victor Hugo, "mome plaine", einer traurigen, blutgetränkten Ebene.
Weil es anders kam, ist die Waterloo-Station ein Bahnhof in London, und die Engländer freuen sich des Sieges über "little boney". Frankreich schweigt. Mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln hat man die belgische Idee, einen Waterloo-Euro zu prägen und damit den wallonischen Tourismus zu fördern, vom Tisch gewischt. Bei Waterloo wurden Napoleon und die Revolution besiegt. Da verstehen die Franzosen keinen Spaß.
Die Nation wird gebraucht wie die eigenen vier Wände
Völker haben ein langes Gedächtnis, und die Regierungen tun gut daran, dies zu berücksichtigen. Die Nation ist kein abgelegtes Kleidungsstück. Sie wird gebraucht wie die eigenen vier Wände. Im globalen Dorf mit seiner öden Eintönigkeit aus Smartphone, Jeans und Burgers bietet sie die Chance, immer noch bei sich zu sein.
Europa kommt mit den unterschiedlichen Geschichtsbildern und Erinnerungen zurecht. Es hat den Nationalismus, der paradoxerweise den ausschweifenden Revolutionsarmeen auf dem Fuß folgte, zum Patriotismus geläutert. Heutige nationalistische Marschierer werden daran auf die Dauer nichts ändern. Zu offensichtlich tragen sie an ihren Stiefeln den Absatz vorn.
Gelassene Erinnerungskultur statt angestrengter Geschichtspolitik
Vor allem den Deutschen ist der Nationalismus ausgetrieben worden. Kein Mensch feiert mehr den Tag von Sedan oder Tannenberg. Und die deutschen Besucher, die jedes Jahr nach Versailles strömen, wollen im Spiegelsaal die Extravaganz des Sonnenkönigs bestaunen und nicht in Andacht vor dem Reichsgründer Bismarck erstarren.
Großzügig überlassen sie Waterloo Abba oder den Engländern, obgleich Waterloo genauso gut Belle-Alliance heißen könnte, wie Blücher es nannte, und ohne Blücher hätte Wellington, sprechen wir es offen aus, "Gute Nacht" sagen können.
Man schaue nur in die Türkei und auf den Umgang mit dem Armenier-Genozid, dann kann man ermessen, wie weit Europa vorangekommen ist, indem es angestrengte Geschichtspolitik durch gelassene Erinnerungskultur ersetzt hat. Es brauchte dazu zweihundert Jahre und schreckliche Erfahrungen.
Das Ergebnis ist: Heute können die Völker Europas entspannt an Waterloo denken – jedes nach seiner Façon.
Günter Müchler studierte Politikwissenschaften, Neuere Geschichte und Zeitungswissenschaften. Er arbeitete als Redakteur der Günzburger Zeitung und der Deutschen Zeitung/Christ und Welt, später als Bonner Korrespondent der Augsburger Allgemeinen und der Kölnischen Rundschau (1974 – 1987). Im Deutschlandfunk war er Leiter der Aktuellen Abteilung, Chefredakteur und Programmdirektor, zuletzt auch von Deutschlandradio Kultur (bis 2011). Jüngste Buchveröffentlichungen: "1813. Napoleon, Metternich und das weltgeschichtliche Duell von Dresden" (2012), "Napoleons Hundert Tage. Eine Geschichte von Versuchung und Verrat" (2014).
Der Autor Günter Müchler
Der Autor Günter Müchler lebt in Paris.© Deutschlandradio/Bettina Fürst-Fastré
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