Wozu noch Gedichte lesen und schreiben?

27.07.2013
Die Schule hat den Menschen den Spaß an Gedichten vermiest, glaubt die Literaturkritikerin Cornelia Jentzsch. Dabei sei Lyrik doch vor allem dazu da, die Welt zu entdecken. Der Lyriker Jan Wagner hält das kunstvolle Spiel mit Worten sogar für ein Grundbedürfnis. Was meinen Sie?
"Ein Gedicht rettet einen Tag", frei nach dem Ausspruch des argentinischen Dichters Roberto Juarroz präsentiert Deutschlandradio Kultur noch bis zum 31. August den "Lyriksommer", mit Lesungen, Portraits, Klangkunststücken, Diskussionen, einem täglichen Gedicht und vielem mehr. Denn allen Unkenrufen zum Trotz: Die Poesie lebt, auch wenn sie nach wie vor eine Sache von Liebhabern ist. Verlage können sie sich meist nur dank einer "Querfinanzierung" von Prosa-Bestsellern leisten.

Wir fragen: "Wozu noch Gedichte lesen und schreiben?"

"Lyrik ist das punktuelle Zünden der Welt",

sagt der Lyriker Jan Wagner.

"Ein paar Quadratzentimeter weißes Papier, bedruckt mit einer Handvoll Wörter, mehr braucht es nicht, um größte zeitliche wie räumliche Distanzen zu überwinden: Ich schlage die Seite um – und ein chinesischer Dichter der Tang-Dynastie spricht mir plötzlich aus dem Herzen."

Ein Gedicht könne auf engstem Raum alle Register der Sprache ziehen und durchdringen, es biete die größtmögliche Freiheit – dem Dichter, aber auch dem Leser:

"Ein Gedicht nimmt sich das Recht, die Dinge so zu denken und zu sehen, wie sie noch nie zuvor bedacht und gesehen worden sind."

Wagner gehört zu den bekanntesten und erfolgreichsten neuen deutschen Dichtern und Übersetzern von Lyrik, für seine präzise Sprache, seine stimmigen Bilder und sein Spiel mit den Formen wurde er vielfach ausgezeichnet.

Bei Lesungen wird er oft gefragt: "Kann man von Lyrik leben?"

"Ich antworte dann mit einer Gegenfrage: Kann man ohne sie leben? Meine Antwort: Nein! Poesie ist ein universelles Bedürfnis."

Wie erklärt er sich, dass die Poesie dennoch ein solches Nischendasein fristet?

"Ich glaube, dass die Schule den Menschen die Gedichte vermiest hat. Es ist ein Grundproblem, dass die Leute denken, ein Gedicht ist etwas, das man interpretieren muss, dem man etwas abpressen muss."
Dabei sei die Lyrik etwas, mit dem die Leute spielen könnten, das ihnen helfen könne, die Welt zu entdecken.

"Mich hat die Literatur gerettet"", sagt Cornelia Jentzsch. Die Literaturkritikerin versucht, ihre eigene Begeisterung für die Lyrik an ihre Leser weiterzugeben.

""Ich bin im Osten groß geworden, mit einer offiziellen, genormten und armen Sprache. Als ich angefangen habe, über das Leben nachzudenken, haben mir die Worte gefehlt."

Die Literatur, besonders aber die Lyrik, halfen ihr, eine eigene freie Sprache zu finden. Daher beobachtet sie derzeit auch den osteuropäischen und arabischen Raum mit großem Interesse:

"Dort ist der Zugang zur Literatur wesentlich existentieller, über Kunst findet Gemeinschaft statt."

Die meisten Menschen würden meist nur die Klassiker kennen, nicht aber die neue Lyrik, ganz zu schweigen von der Poesie anderer Länder.

Cornelia Jentzsch sieht sich daher als Vermittlerin, gerade auch für eher unbekannte Dichter:

"Kritiker stehen ja in dem Verruf – Daumen rauf, Daumen runter. Man kann aber auch etwas vermitteln. Das ist wie bei kleinen Mosaiksteinchen: Hier funkelt es, da schimmert es, und ich versuche, die Leser zu begeistern, dass ich sie öffnen kann für Gedichte."

"Wozu noch Gedichte lesen und schreiben?"
Darüber diskutiert Gisela Steinhauer heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr gemeinsam mit Jan Wagner und Cornelia Jentzsch. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 00800 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.


Weitere Infos:
- Über den Lyriksommer im Programm von Deutschlandradio Kultur

Literaturhinweise:
-Jan Wagner: "Die Eulenhasser in den Hallenhäusern. Drei Verborgene", Hanser Berlin, Berlin 2012
Jan Wagner: "Die Sandale des Propheten. Beiläufige Prosa", Bloomsbury Verlag, Berlin 2011
Jan Wagner: "Australien", Berlin Verlag, Berlin 2010