Weltkulturerbe aus Korsika

Paghjella-Gesang hat alle Besatzer überlebt

Eine korsische Flagge: Der schwarze Kopf mit weißer Stirnbinde gilt als Symbol korsischer Freiheit.
Eine korsische Flagge: Der schwarze Kopf mit weißer Stirnbinde gilt als Symbol korsischer Freiheit. © imago/blickwinkel
Von Philipp Quiring · 27.10.2016
Die Reihe der Besatzer der Mittelmeerinsel Korsika ist lang. Gerade französische Fremdherrscher waren bemüht, die Korsen um ihre kulturelle Identität zu bringen. Umso erstaunlicher ist es, dass eine Gesangskultur die Repressalien überdauerte: der Paghjella-Gesang. Er zählt zum Weltkulturerbe.
Tonì Casalonga (Pigna): "Die Musik ist ein starker, identitätsstiftendender Wegweiser, durch den sofort und ohne Umschweife ein stilistischer Ausdruck erkennbar wird. Um die vokale Musik zu verfolgen und vor allem um sie zu singen, bedarf es aber einer Sprache. Und diese Sprache ist auch ein Wegweiser, so dass es einen zweifachen Wegweiser gibt. Ich bin davon überzeugt, dass das Singen einer Paghjella in korsischer Sprache dazu führt, seine eigene Identität zu behaupten."
Der dreistimmige Gesang der Paghjella als tönendes Abbild der Geschichte, als kultureller Höhepunkt einer gesanglichen Entwicklung, den die UNESCO 2009 als "einzigartig" und "weltbedeutend" einstuft und den Titel "Weltkulturerbe" verleiht.
Nach verschiedenen Phasen der Fremdbestimmung seit dem 14. Jahrhundert wurde die korsische Identität insbesondere durch die Repressalien der französischen Regierung bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus eingeschränkt. Sanktionen zur Eindämmung der korsischen Sprache wurden verhängt: Korsisch an öffentlichen Orten wie Schulen verboten. Umso bedeutsamer wurde für die Korsen der Gesang zur Bewahrung ihrer Identität.

Dorf der singenden Bauern

Die korsische Sprache wurde bewahrt und mit ihr viele Lieder. Von Generation zu Generation wurden diese mündlich überliefert. Einige sind im Laufe der Zeit verloren gegangen, andere sind bis heute erhalten geblieben. Hinausgetragen aus den einzelnen Dörfern, über die gesamte Insel und darüber hinaus. Als Dorf der singenden Bauern und als Entstehungsort der Paghjella liegt Rusio im Zentrum Korsikas. Ein kleines Dorf, das mehr als 1000 Meter über dem Meeresspiegel liegt und das wie kein zweites eine Strahlkraft für die gesamte korsische Musikkultur besitzt. 1948 reiste der Ethno-Musikwissenschaftler Félix Quilici nach Rusio und transportierte ein Magnetofon die Berge hinauf, um die singenden Bauern während ihrer Feste aufzunehmen.
Philippe Rocchi: "Es war ein Dorf, in dem viel gesungen wurde. Ich habe das Dorf in meiner Jugend als einen Ort kennengelernt, an dem praktisch jeder gesungen hat. Und nun gibt es dort keine Schulen mehr. Früher hat man dort auch noch Messen gesungen. Nach und nach gibt es dort ebenso wenig Messen, wie es singende Leute gibt. Zu singen ist selten geworden."
Die Biografie des korsischen Sängers Philippe Rocchi steht exemplarisch für die Auswanderungswellen ausgehend von den kleinen Dörfern in die Städte – allen voran Ajaccio und Bastia. Er selbst lebt seit den 80er Jahren in Haute-Corse, in Bastia, um zu arbeiten, während in seinem Heimatdorf die Landwirtschaft brach liegt. Umso lebendiger sind die Erinnerungen.
Philippe Rocchi: "In meiner Familie hat mein Vater gesungen. Mein Onkel hat auch gut gesungen; meine Geschwister, mein Bruder, meine Schwester ebenso. Man hat also durchs Hören zu singen gelernt. Für die Jugend von heute ist es viel schwieriger, weil der Gesang heute in den Musikschulen stattfindet, die man besucht, um dort zu lernen. Aber die ursprüngliche Form zu hören, etwa bei bestimmten Anlässen in den Dörfern bei Festen oder so, das wird immer seltener. Es gibt noch einige Leute, die so singen. Aber die werden immer weniger. Denn um deren Art zu singen zu lernen, müsste man es regelmäßig genug hören."

Traditionell ein Männergesang

Der dreistimmige Paghjella-Gesang, der traditionell ausschließlich von Männern gesungen wird, führte dazu, dass in der Vergangenheit Musikbegeisterte nach Rusio reisten, um den ursprünglichen Stil des Dorfgesanges kennen zu lernen.
In der Paghjella übernimmt die mittlere Stimme, a segonda, die melodische Führung und wird dabei von einer tiefen Bassstimme, u bassu, und einer kolorierenden hohen Stimme, a terza, umspielt. Eine weitere elementare Form der korsischen Polyphonie ist das Madrigal, das anders als bei den Spaniern mit dem Villancico und den Franzosen mit ihrem Chanson, auch eine künstlerische Blüte bei den Korsen erlebte. Als dritte Form gilt das Terzett. Philippe Rocchi erinnert sich hierbei an seinen berühmten Onkel, Charles Rocchi, der zu Lebzeiten als Inbegriff der korsischen Sangeskunst galt.
Philippe Rocchi: "Er hat traditionelle Gesänge aus Rusio wie Terzetti und andere aufgenommen. Er hat von Leuten gelernt, die diese Musik kannten. Diese frühen Aufnahmen davon geben vielleicht auch Leuten die Möglichkeit, die diese Gesänge bisher niemals gehört haben, seine Stimme zu hören und zu wissen, dass man damals in der Region von Korsika auf diese Weise gesungen hat."

Neue musikalische Impulse

Das Terzetti Rusinchi folgt der Form einer Paghjella in traditioneller Weise. Völlig unüblich war jedoch über lange Zeit der Einsatz von Frauenstimmen. In dieser Aufnahme stammt eine der Frauenstimmen von Anghjula Potentini.
Die Bedeutung der Frau innerhalb der korsischen Musik nimmt zu. Die Insel verändert sich demografisch durch die Auswanderung der Bewohner aus den Dörfern in die Städte.
Zudem findet eine Abkehr von der traditionellen musikalischen Ausbildung statt. Wurde die junge Generation früher innerhalb der heimischen vier Wände durch Familienmitglieder an die Sangeskunst herangeführt, finden sich auf Korsika immer mehr sogenannte "Ateliers de Chants" – Gesangsateliers zur Anwerbung des Nachwuchses. Der korsische Gesang - und mit ihm die Paghjella - sieht sich neuen Impulsen für die musikalische Entwicklung ausgesetzt. Die Funktion des Gesanges bleibt hiervon unberührt.
"Ich denke, dass die traditionelle korsische Gesangskultur eine wichtige Rolle dafür gespielt hat, ein Bewusstsein für Korsika zu entwickeln. Kulturell sind wir nicht Französisch. Wir sind keine Franzosen, wir sind Korsen! Wir haben eine Kultur, eine Identität und deshalb denke ich, dass es den Leuten erlaubt ist, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass sie sich hiermit auch unterscheiden. Und dass dieser Gesang, der von den Vorfahren ins Leben gerufen wurde, unsere Kultur und unsere Identität ist."
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