Wacken Open Air

Ein Rentner unter Heavy-Metal-Fans

Heavy Metal Fans auf dem Wacken Open Air.
Heavy Metal Fans auf dem Wacken Open Air. © dpa / picture alliance / Axel Heimken
Von Dieter Bub · 31.07.2016
Wacken ist das größte Heavy-Metal-Festival der Welt. Jedes Jahr treffen sich 75.000 Fans in der schleswig-holsteinischen Pampa. Dieter Bub, jenseits der 70 und Opernfan, wollte das Wacken-High erleben. Obwohl er nüchtern blieb, hat es geklappt.
Bei meiner Ankunft in Wacken schüttet es wie aus Eimern. Der Scheibenwischer arbeitet auf vollen Touren. Tausende PKWs, LKWs und Campingwagen stehen im Stau. Auf den Fußgängerwegen dunkle Gestalten in schwarzen Regenumhängen – Heavy Metal Fans beim ersten Bier.
Im ersten Moment schien es eine fixe Idee: In meinem Alter nach Wacken? Die einen kommentierten sarkastisch "Je oller, desto doller" und wussten von Massen-Trink-Gelagen, anarchistischem Gejohle, einem Sodom und Gomorra in Schleswig–Holstein zu berichten. Andere aber reagierten begeistert und schwärmten von der Musik, von Wacken, dem größten Heavy-Metal-Open-Air der Welt, dem Mekka dieser aggressiven, oft düsteren Musik in einer Lautstärke bis an die Schmerzgrenze. Warum mute ich mir das zu? Die Frage stellt sich in diesem Moment drängend.
Kurz danach sehe ich, was der Regen angerichtet hat – einen Morast der bis zum Horizont reicht. Das gesamte Festivalareal liegt im Schlamm. Wenigstens ist es jetzt von Vorteil, dass ich keinen Platz zum Campen mehr bekommen habe und ausweichen muss in eine Reetdachkate in einem Dorf auf der anderen Seite des Nord-Ostsee-Kanals, das nur mit der Fähre zu erreichen ist. In Wacken und Umgebung geht gar nichts mehr. Im Umkreis von 40, 50 Kilometern ist alles ausgebucht. Die 75.000 Festivalkarten für dieses Jahr waren binnen 24 Stunden ausverkauft.

Angst, im Schlamm zu versinken

Am nächsten Morgen: Es regnet. Ich ergattere in einem Landhandel ein paar Gummistiefel, die letzten, sagt die Verkäuferin. Die Ankunft: Auf dem Parkplatz drehen die Räder durch. Mit Mühe rutsche ich in eine Lücke und mache mich mit den neuen Gummistiefeln und meiner Regenjacke auf die Suche nach dem speziellen Wacken-Feeling. Schritt für Schritt sacke ich ein, immer in der Furcht in diesen Matsch zu stürzen, halte mich an Autos, Campingwagen und Zeltstangen fest.
Eine Gruppe von Neunzehn- bis Dreiundzwanzigjährigen aus Karlsruhe sitzt unter Planen und feiert die gestrige Ankunft auf dem Campingplatz. Sie könnten meine Enkel sein. Sie laden mich zum Bier ein. Es regnet, das macht nichts. Sie sind gut drauf, so wie auch ihre Zeltnachbarn.
"Einfach das Feeling. Wir fahren acht bis zehn Stunden. Wenn man das Ortsschild Wacken schon sieht – das kann man nicht beschreiben. Wir waren schon auf anderen Festivals. Es ist nicht vergleichbar."
Die Gruppe kennt sich aus. Dave hat es schon mit neun gepackt als er bei einem Freund zum ersten Mal Heavy Metal gehört hat. Er ist bereits zum vierten Mal in Wacken, die anderen kommen seit zwei Jahren. Kurze Zeit später nehmen die Jungen mich, den Alten, mit zum eigentlichen Festivalgelände, dorthin, wo die Konzerte stattfinden. Es dauert über eine Stunde. Wir sacken zwanzig bis vierzig Zentimeter ein, halten einander fest.
"Wir müssen erstmal aufpassen, dass wir hier nicht hängenbleiben."
Ich hangle mich an einem Absperrgitter entlang, stolpere durch große Zeltareale.
"Jetzt wird es aber ganz, ganz schwierig. Warte mal, kann man hören wie das Wasser da noch rausquillt."
Erst dann erreichen wir den Einlass und waten Schritt für Schritt vorwärts.
"Jetzt sind wir gerettet."
Manchmal bringt ein Holzsteg vor den Imbiss- und Verkaufsständen Erleichterung. Erschöpft erreiche ich nach anderthalb Stunden das Ziel, Beergarden–Stage, die erste Bühne. Die Ouvertüre des Wacken Open Air hört sich so gar nicht nach Heavy Metal an. Auf der Bühne stehen die "Firefighters", das ist die Feuerwehrkapelle der Ortschaft Wacken, sie ist zum vierten Mal dabei.
"Bei den "Firefighters" spielen wir vor Zehn-, Zwanzigtausend Zuschauern und als Freiwillige Feuerwehr haben wir ja nicht so viele vorne stehen. Und das Highlight ist natürlich ein bißchen größer – eigentlich nicht die Musik, die hier gespielt wird – aber gut angenommen wird."
"Interessiert ihr euch eigentlich für Heavy Metal"?
"Ja musikalisch auf alle Fälle. Man muss ja auch bedenken. Im Heavy-Metal-Bereich sind unheimlich gute Musiker dabei und auch für die gilt ja auch die Harmonielehre und auch ein Schlagzeuger muss ja auch das Tempo erstmal auf einer Spur halten. Also für mich sind das erstmal sehr, sehr gute Musiker."

Unterwegs mit dem Metalexperten Hendryk

Die "Firefighters" – eine deutsche Blaskapelle, wie ich sie auch heute noch bei Feuerwehrfesten auf dem Dorf erlebe.
Die biederen Bürger von Wacken – Bauern, Handwerker, Geschäftsleute – sie spielen für die angereisten Heavy-Metal-Fans aus der weiten Welt. Als eine Gruppe mit einer Polonaise beginnt, werde ich kurzerhand für zwei Runden untergehakt. Was nun?
Ich habe die Qual der Wahl – zwischen acht Bühnen und über 150 Konzerten.
Bereits am ersten Tag beobachte ich, dass sich die Fans verändern, kaum dass sie in Wacken angekommen sind. Angestellte, Arbeiter, Beamte, Unternehmer und Schüler entledigen sich ihrer Alltagskleidung und tragen stattdessen Stiefel, Jeans, Schmuck, Basecaps und T-Shirts ihrer Lieblingsbands – Iron Maiden, Nirvana, Running Wild oder Klassikern wie ACDC. Und Rammstein. Alles zu haben an Verkaufsständen rund um das Festivalgelände. Eine riesige Merchandising-Industrie. Ein einziger Rundumblick genügt um festzustellen: Dies hier ist eine Männerveranstaltung. Nur vereinzelt entdecke ich Frauen. Weibliche Heavy-Metal-Fans sind offenbar rar. Ich schaue an mir herab: Mit meinem Alltags-Outfit wirke ich wie ein Exot, trotz Gummistiefel.
Ich blicke auf einen Rücken mit einem Vogelkopf in langem Gewand. Dieses T-Shirt gehört Hendryk aus Berlin. Auf der Vorderseite seines Shirts steht S-U-N-N.
"Für eine gewisse Szene vielleicht die wichtigste Band. Ich nenne das Avantgarde – Metal. Sunn ist eine Band die aus dem Black-Metal-Bereich kommt. Das kommt an Grenzen, wie man mit Metal überhaupt noch umgehen kann."
Hendryk ist mir sehr willkommen. Der Fünfundvierzigjährige, Entwickler in einem Software-Unternehmen hat 1985 Heavy Metal als Musik für sich entdeckt und fünf Jahre lang die Szene intensiv erlebt. 1987 war er zusammen mit seiner Mutter auf dem eintägigen "Monsters of Brock"-Festival in Baden-Württemberg.
Hendryk, groß gewachsen mit einem grauschwarzen Lockenkopf ist in Wacken auf Nostalgietrip. Er ist ein lebendes Heavy–Metal–Lexikon. Er kann mir, dem Greenhorn, gute Informationen geben. Zum Beispiel bei einem Programmpunkt, der mich ratlos macht. "UDO with Bundeswehr Musikcorp".
Hendryk und ich staksen gemeinsam quer über das Gelände, fünfhundert Meter in zwanzig Minuten. Es ist Nachmittag, der Platz ist voll. Zehntausend oder mehr stehen im Matsch, manche in Halbschuhen, die Knöchel mit Plastiktüten umwickelt, andere barfuß mit hochgekrempelten Hosenbeinen. Wir bleiben hinten, wagen uns in dem suppigen Schlamm nicht nach vorn, suchen Halt an einem der Bierstände.
Das Musikcorps der Bundeswehr fügt sich schrill und schräg in den Sound. Die Fans versuchen zu stampfen, sie lassen sich von anderen hochheben und schreiend weiterreichen. Zehn, Fünfzehntausend vor der Bühne, ich vermute, dass viele ihr Frühstücksbier, Rum- oder Whisky-Cola intus haben. Ich denke an den Rückweg und bleibe nüchtern. Verwundert frage ich Hendrik, warum UDO mit dem Blech der Bundeswehr hier dabei ist
"UDO ist immerhin eine legendäre Figur des deutschen Metals. Die Band Except hat in den Siebzigern angefangen war die wichtigste deutsche Band, eine der ersten, die international erfolgreich war, Wegbereiter für deutsche Heavy-Metal-Bands und UDO war damals der Sänger und hat seine eigene Band mit dem Namen UDO gegründet und insofern ist er eine legendäre Figur. Ich weiß nur, der hat damals schon immer Militärklamotten getragen."
Für mich ist UDO eine Enttäuschung, nicht nur wegen der großen Entfernung zur Bühne. Die Musik klingt nicht wie Heavy Metal sondern wie Russendisco. Und die Texte empfinde ich als beliebig.

Ausflug ins Dorf

Freitagmorgen. Es hat aufgeklart. Ich verarzte meinen blutenden großen rechten Zeh mit Wundsalbe und Verband. Ein Geschenk meiner Vermieter. Wieder rein in die Stiefel und zurück in die Wackener Schlammschlacht.
Statt Regen Sonnenschein, aber die zähe Masse ist geblieben. Ich weiche den Traktoren von Landwirten aus Wacken und Umgebung aus, die steckengebliebene Autos aus dem Matsch ziehen. Selbst Busse und VIP-Fahrzeuge sind bis zu den Achsen versunken. Ich wate wieder im Zickzackkurs über das Gelände.
Siehe da, die Karlsruher. Sie sind, wie ich, an den Füßen lädiert. Außerdem:
"Ja die Nacht war ziemlich kalt und nass. Ab einem gewissen Alkoholpegel wird das ziemlich anstrengend und da wir aus Karlsruhe kommen und das liegt ja eher im Süden, sind wir das kalte Wetter hier oben nicht gewohnt und von daher war es schon anstrengend die Nacht."
"Also wir haben meischt gutes Wetter und hier oben geht der Wind die ganze Zeit und es ist relativ kühl. Aber heut morgen scheint die Sonne und es ist echt gutes Wetter und ich denke, dass der Tag heut perfekt wird."
Gestern waren auch sie bei UDO, fanden es im Gegensatz zu mir super. In der Menschenmenge sind wir uns nicht begegnet.
Ich verordne meinen Füßen eine Schonzeit, packe die schlammigen Stiefel in den Rucksack und ziehe mir Sandalen an. Welch' eine Wohltat auch für die Unterschenkel, an denen sich Schürfwunden gebildet haben. Vor dem Parkplatz führt ein trockener Weg ins Dorf Wacken, das aus einer Hauptstraße und fünf Nebenstraßen besteht: gepflegte eingeschossige Backsteinhäuser mit ordentlich gestutzten Buchsbaumhecken, der Rasen knapp geschnitten, Swimmingpools hinter dem Haus. Alles picobello hier oben, ordentlich, sauber, norddeutsch. Vor einem Haus kehrt eine Frau den Bürgersteig. Ich winke ihr zu. Sie grüßt zurück. Einheimische und Fremde sind miteinander vertraut. Viele Wackener vermieten Zimmer im Dachgeschoss.
Ein Stück entfernt: großer Andrang bei EDEKA, vor allem nach Bier. Gegenüber ein Neubau, in dem Met in Flaschen und Fässern, Trinkhörner und Ritterrüstungen verkauft werden. Schließlich waren hier oben, in Haitabu, einmal die Wikinger zu Hause. An der Hauptstrasse bin ich mit Hendryk verabredet. Jedes Haus ein Shop, jede freie Fläche ein Gartenlokal, dazwischen Zelte mit Souvenirs, Kneipen. An Biertischen Touristen aus ganz Europa, Japan, USA, Kanada. Wacken ist Attraktion. Deutsche Exotik. Zu den 75.000 Festivalbesuchern kommen am Freitag und Sonnabend noch einmal bis zu 20.000 Neugierige auf die Partymeile von Wacken. Auf dem Bürgersteig bekomme ich von christlichen Missionaren eine "Heavy-Metal-Bibel" geschenkt. Sie haben heute schon über 5000 verteilt, in Deutsch, in Englisch, Russisch und Spanisch. Wir wollen zurück aufs Gelände, zur Musik. Jetzt heißt es Gummistiefel wieder anziehen und Zähne zusammenbeißen.

Euphorie bei voller Lautstärke

Der Platz ist voll verschlammt und voll besetzt. Meine Bedenken vor der Fahrt hierher, ich könnte der einzige Alte unter Jungen sein, waren überflüssig. Unter den Tausenden gibt es viele internationale Fans jenseits der Sechzig, die offenbar seit Jahrzehnten Anhänger von Heavy Metal sind.
Hendryk führt mich zu "Sepultura", einer legendären brasilianischen Band aus Belo Horizonte, der einzigen bekannten Gruppe mit einem farbigen Sänger, er kommt aus den USA. Derrick Leon Green, eine eindrucksvoller Kerl mit Rastalocken. Ihre Musik grell mit hohem Tempo. Die Texte richten sich gegen den Hunger in der Welt, gegen die Unterdrückung der Armen, gegen die Korruption in Brasilien, ein Aufruf zum Wiederstand.
"Die haben '84 angefangen, sind damals in den Achtzigern ziemlich bekannt gewesen. Es gibt viele Band-Mitglieder, die wechseln. Der Sänger ist heute ein ganz anderer als früher. Die haben noch so crossover – Elemente drin und, hardcore Elemente."
Ein Metal-Fan posiert mit seiner Ukulele beim 24. Heavy Metal Wacken Open Air Festival (WOA) 2013 in Wacken.
Ein Metal-Fan posiert mit seiner Ukulele beim 24. Heavy Metal Wacken Open Air Festival (WOA) 2013 in Wacken.© AFP
Jetzt bin ich auf die volle Lautstärke gespannt. Sicherheitshalber nehme ich die Ohropax aus der kleinen Blechdose, die ich früher nur gegen Schnarchgefährten angewandt habe, doch trotz der mächtigen Lautstärke entferne sie gleich wieder. Ich will Heavy Metal nicht gedämpft, sondern in vollem Sound, der mir durch den Körper dringt und in meinen Gummistiefeln in Schwingung versetzt. Mehr ist nicht möglich. Ich bin im Untergrund festgesaugt, aber spüre die Live-Atmosphäre. Kein Vergleich mit den Aufnahmen, die ich früher von ACDC, Judas Priest und Black Sabbath aus dem Nebenzimmer der Tochter gehört habe. Die Musik hämmert in meine ungeschützten Ohren und ich gerate in eine Art Euphorie. Bin ich nun vom Wacken–Virus infiziert?
"Sie haben einen Sänger gefunden, der das genauso macht wie Claus Täte früher, der diese eigenwillige Art zu singen hat und der damit auch berühmt geworden ist in dieser Metal-Szene und als er dann sagte, wie go back to 1986 da wurde es mir so ein bißchen mulmig und dann spielten sie genau die Songs, die ich damals gehört habe und wie ich dann zurückgerechnet habe, wie lange das eigentlich her ist, das hat mich dann sehr berührt."
"Sepultura" ist auch für mich mitreißend, so wie in meiner Jugend Bill Haley als ich im Theater in München, außer mir auf den Stühlen rockte, später in der Waldbühne bei Bruce Springsteen oder den "Rolling Stones" im Berliner Olympiastadion. Nur das hier ist noch mehr. Auf der riesigen Videoleinwand werde ich unmittelbar von der Präsenz der Musiker, von dem Gesicht des charismatischen Sängers mit vehementer Obertonstimme gepackt.
Von Hendrik erfahre ich: Auch die nächste Band, "Dreamtheater", gehört zu den Klassikern.
"Die gab‘s ja schon – 1985: 30. Geburtstag, ich hab das gehört bei einem Freund als komplexen, sehr melodischen Metal."
Ich achte weniger auf die Musiker von "Dreamtheater", sondern auf die erschreckenden Illustrationen auf der Videoleinwand. Das zentrale Thema der Band war und ist noch heute New York. Rasante Bildsequenzen klagen an, was vom amerikanischen Traum geblieben ist: Verblendung der Massen, Hochhaustürme, Raserei, Überwachung, Flucht, Rassismus und Verfolgung. Ein Schwarzer von einem Mob verfolgt, rennt um sein Leben.
"Musikalisch ist es gut. Das sind Supermusiker. Technisch brillant aber mir ist das zu pathetisch. Aber das ist Geschmackssache. Das ist so ein Tick nicht mehr meine Art von Musik. Da geh ich nicht mehr mit. Ein bisschen zu viel Kitsch, zu viel Pathos. Wenn ich das so höre, da wird es für mich ein bisschen gruselig."

Trinken gehört dazu

Ich stehe wieder an einer der Biertheken. Der Umsatz steigt rapide, 0,3 für drei Euro. Gruppen bestellen eine Runde nach der anderen. Volltrunken torkelt ein Achtzehn- höchstens Zwanzigjähriger heran, schwankt im Rhythmus der Musik, haut drei Euro auf den Tresen, nimmt den nächsten Becher, lallt, verschüttet das Bier, verschwindet in der Masse. Zwei Männer schreien wie Irre.
Sich zu betrinken gehört für einen großen Teil der Fans zum Ritual, ein großes Geschäft. Der Verkäufer eines Braunschweiger Kräuterlikör-Unternehmens schenkt das süss–süffige Getränk aus einem Blechkanister aus und findet reichlich Absatz. Unmittelbar neben mir fährt ein Krankenwagen vor, hebt eine Frau auf eine Liege, schließt einen Katheder an, transportiert sie zur Station. Sie hat einen Kollaps erlitten, eine von vielen Patienten. Rotes Kreuz und Johanniter sind rund um die Uhr im Einsatz. Hauptursache: Trunkenheit. Für Zwischenfälle ist ein Ordnungsdienst mit einer Flotte von Quads unterwegs.
Dabei sind alle in diesem Menschengewaber ausgelassen fröhlich – Arme werden in die Höhe gerissen, Refrains mitgesungen. Auf den Bühnen perfekte Animateure, alle versuchen irgendwie im Matsch zu tanzen. Ich müsste eigentlich mittendrin sein, aber nüchtern, wie ich bin, fehlt mir der nötige Spirit. Dennoch: Ich bin fasziniert. Auch von der nächsten Gruppe, die Hendryk auf seinem Programmzettel hat. "Queensrich" aus Stockholm, ein Klassiker.
"Ja, das ist vielleicht 25 Jahre her, dass ich was von denen gehört habe, Queensrich, das ist Hardmetal."
Es ist eine Heavy-Metal Band ohne jeden Kompromiss mit einem irrwitzigen Tempo, spektakulären Gitarrenriffs, die Lautstärke bis zum Anschlag. Später auf der Rückfahrt in meine verwunschene Kate klingeln mir die Ohren. Ist es ein Tinitus, weil ich die volle Dröhnung erleben wollte?

Die Vielfalt des Heavy Metal

Am nächsten Morgen: heftiger Muskelkater in den Beinen. Ich verarzte meine Blessuren mit Salbe und neuem Pflaster. Auch Hendrik, der mit dem Shuttle-Bus aus einem Hotel in Itzehoe anreist, will erst einmal entspannen. Der Schlamm ist zu einem großen Teil abgetrocknet und über Nacht mit Pumpen abgesaugt worden.
Zusammen besuchen wir die Karlsruher Truppe. Sie sind entspannt – und begeistert. Dave erzählt, was ihn fasziniert:
"Für mich auf jeden Fall die Vielfalt, die es da eben gibt. Daß es von Melodic Death zu Power Metal alles Mögliche gibt und dass die Vielfalt extrem hoch ist, wenn man das mal mit anderen Musik – Genres vergleicht."
Dazu gehört der Versuch Heavy Metal mit Klassik zu verbinden. Ich sehe auf der Bühne eine Band zu der zwei Geigerinnen und eine Cellistin gehören: "Rock meets Classic", danach wird das Ganze mit Metal übergossen. Ein bewährtes Rezept. Attraktive Musikerinnen wie beim Walzer-Schnulzen-König Andre Rieu. Ich weiß sofort, auch diese Form von Heavy Metal ist nicht meine Musik. Ich flüchte.
Zurück zu den beiden Hauptbühnen Black-Stage und True-Metal-Stage. Hendryk und ich machen es uns neben anderen auf einer der trockenen Inseln bequem. Als Unterlage nutze ich meine Regenjacke und meinen Rucksack. Auf der linken Bühne spielt Sabaton. Ich strecke mich der Länge nach aus und spüre dem Geheimnis von Heavy Metal nach. Ich schließe die Augen. Die Musik durchdringt mich, die Vibrationen übertragen sich durch den Boden auf meinen Körper. Trotz der Wucht dieser Musik schlafe ich ein.
Hendrik und ich erledigen das Lebensnotwendige. Zum Essen Fischbrötchen, Döner, Veganes, Pommes. Vor den Toiletten Schlangen. Das Angebot an kostenlosem Wasser wird kaum genutzt. Ich kaufe mir jetzt auch ein T-Shirt: Es zeigt das Symbol von Wacken mit dem Schädel eines gehörnten Tieres in schlammbrauner Farbe, dazu der Slogan: Rain or Shine. Ich ziehe es mir über und fühle mich zugehörig.
Mit dem Abend steigen vor den großen Bühnen Alkoholpegel und Stimmung. Hendryk trinkt, wie gestern zwei, drei Bier. Ich bleibe bei Null Promille. Allein die Musik macht mich high. Mir als Opernfan, kommt der Gedanke: Auch Richard Wagner würde heute Heavy Metal komponieren. "Der Ring der Nibelungen" nicht für ein elitäres Bildungsbürgertum, sondern für Hunderttausende in aller Welt. Auch er mit seiner Botschaft vom Zusammenbruch der Welt, der Zerstörung, der Vernichtung des Guten. Der Alte aus Bayreuth in Gesellschaft von Black Sabbath und Metallica? Warum nicht. Die Idee gefällt mir.

Der Höhepunkt: Judas Priest

Zum Abschluss gibt es für mich zwei Highlights, die Hendryk ausgewählt hat. "Death Metal", Musiker aus Schweden mit blutroten Gesichtern und blutroten Körpern.
"Ja eine schwedische Death-Metal-Band 'bloodbath' heißen die. Schweden ist ja berühmt für die härtesten und krassesten Metal-Bands gerade in dem Doom- und Death-Bereich. Das ist eine Band von gestern, von Opard mitbegründet und ist natürlich auch sicher komplexer Death Metal und das ist sicher eine schwedische Supergroup, mit Leuten wiederum, die in diesem Projekt zusammengefunden haben. Wir können da nur gespannt sein und nach Rock and Classic ist das sicher befreiend wieder Death Metal zu hören."
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In Wacken tanzen viele Menschen zu Heavy-Metal-Musik. (Bild: picture alliance / dpa)© Carsten Rehder/dpa
Wir haben zwei Stunden Pause bis zum Höhepunkt des Festivals, dem Auftritt von "Judas Priest". Wir bleiben auf unserem Platz am Bierausschank. Ich bestelle Cola, Hendryk zwei Bier. Noch immer auf der Suche nach dem Geheimnis von Heavy-Metal frage ich mich, wie die vielfältigen Botschaften dieser Musik wirken – von den Ursprüngen des Satanismus, der politischen Anklage, dem Aufschrei gegen die Zerstörung der Welt bis zu beliebiger Unterhaltung. Hendryks Analyse ist für mich eher ernüchternd.
"Aus meiner Jugenderfahrung und ich glaube, dass das heute auch noch so ist, ist es etwas, was in Kleinstädten und dörflichen Regionen, also in Deutschland zumindest für die Jugend relevant ist. In Großstädten ist das, glaube ich, nicht so wichtig. Und es hat ja auch sowas. Metal hat immer etwas so Traditionelles, manchmal was Spießiges auch in seiner Beharrlichkeit, in seinem Traditionalismus. Nicht dass es da noch Experimente und sowas gäbe. Es ist ja auch ne Männerkultur, muss man ja auch mal sagen, für ganz viel junge Männer ist das schon ein Abgrenzungsmechanismus. Metal ist mit Ausnahmen, da gibt es ja auch radikale....bis ins rechte Spektrum. Vieles ist ja auch nur Brimborium, die große Geste des Satanismus, die große Geste der Abweichung, die große Geste, das ist auch ein mythisches Spiel."
…und die Magie dieser aggressiv zupackenden Musik, die ich in diesen drei Tagen auch für mich entdeckt habe. Dabei ist es der Hard-und True-Metal-Bereich mit den Botschaften von Empörung, Widerstand und Ungehorsam, der mich fasziniert. Dies ist auch meine Musik.
Der Platz vor dem True-Metal-Stage füllt sich von Minute zu Minute sind es dreißig-, vierzig- oder fünfzigtausend? Judas Priest ist das Highlight in diesem Jahr, der am Schluss des Festivals auftritt.
Ein Urgestein dieser Musik. 1968 gegründet, seit 1974 hat die Band Klassiker des Heavy Metal geschrieben und viele andere Bands beeinflusst. Frontman ist der charismatische legendäre Rob Halford, ein Siebzigjähriger mit explosiver Stimme, von vielen seiner Fans als Gott des Heavy Metal verehrt. Sein Auftritt: eine eindrucksvolle Inszenierung. Nach einem Lichtgewitter rollt Halford in schwarzem Lederoutfit auf einer Harley langsam auf die Bühne – eine Kultgestalt.
Jetzt ist es da, das Wacken-Feeling. Subversiv. Wacken ist mehr als eine Auszeit vom Alltag, hemmungslose Show, Mißachtung von Regeln. Wacken ist auch eine Form der Massenrevolte und Protest gegen eine Welt, die aus den Fugen geraten ist.
Ich kann mir trotz Schürf- und Fußwunden vorstellen wiederzukommen: in meinem neuen T-Shirt und dann, wenn das Barometer nicht auf Rain sondern auf Shine steht.

"Ich musste dort einfach hin.
Auch im Alter ist Wacken eine Entdeckung.
Hier wurde ich ein Heavy-Metal-Fan."




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© Deutschlandradio / Dieter Bub
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