Sozialexperte Jürgen Borchert

"Familien werden systematisch benachteiligt"

Jürgen Borchert bei einem Vortrag auf dem Parteitag der Alternative für Deutschland (AfD) Ende Januar 2015 in Bremen.
Zu Gast in der Sendung Tacheles: Jürgen Borchert © imago
Moderation: Martin Steinhage · 07.02.2015
Jürgen Borchert zählt zu den profiliertesten Sozialexperten Deutschlands und streitet seit über 35 Jahren für Reformen. Der Ex-Richter erläutert in "Tacheles" seine Überzeugung, dass die deutsche Sozialpolitik zutiefst unsozial und ungerecht sei: im Steuersystem, bei den Sozialabgaben, in der Familienpolitik, bei der Rente und Hartz IV.
Deutschlandradio Kultur: Mein Gast heute wird gelegentlich als der "Robin Hood für die Familie" bezeichnet und er gilt als einer der profiliertesten Sozialexperten Deutschlands. Seine Erfolge vor allem im Interesse von Familien hat er nicht etwa als Politiker oder als Verbandsfunktionär erzielt, sondern als Jurist - als Richter und als Sachverständiger. - Guten Tag, Jürgen Borchert.
Jürgen Borchert: Hallo, Herr Steinhage.
Deutschlandradio Kultur: Herr Borchert, dass Erziehungszeiten bei der Rente angerechnet werden und dass Kinderlose einen höheren Pflegebeitrag zahlen müssen als Menschen mit Kindern, das ist vor allem auch auf Sie zurückzuführen. Können Sie vielleicht einmal zur Einstimmung am Beispiel des Pflegeurteils kurz skizzieren, wie der Richter bzw. Sachverständige Jürgen Borchert – tja – Politik gemacht hat?
Jürgen Borchert: Es geht alles auf meine Dissertation zurück. Da hatte ich Hilfestellung von sehr sachverständiger Seite, nämlich von einem der Gründerväter des Sozialstaats, dem Jesuiten Oswald von Nell-Breuning, ein ganz berühmter Mann, der bei entscheidenden Fragen unserer Sozialgeschichte mit dabei war und mit steuerte. Er hat mich sehr früh daraufhingewiesen, dass wir einen grandiosen Fehler begangen haben 1957 bei der Rentenreform, dass wir damals zwar die Alterssicherung durch die moderne dynamische Rente sozialisierten – also, dass wir die junge Generation für die alte zahlen ließen –, dass aber der zweite Teil des Reformplanes, nämlich die Sozialisierung der Kindheits- und Jugendlasten, damals unterlassen wurde.
Grundproblem des Sozialstaats: Missachtung der Leistung der Kindererziehung
Und jetzt haben wir eine unglaubliche Asymmetrie in dem ganzen System, weil die Alten sozialversorgt werden, die Kinder privat, aber die Kindergeneration muss ja später die soziale Last der Alten gemeinsam tragen und darunter auch immer mehr Personen, die lebenslang keine Kinder großgezogen haben. Dass das nicht gut gehen konnte, wusste man schon damals. Das habe ich in meiner Dissertation verarbeitet und bin damals zu dem Schluss gekommen, dass der Kindererziehung für die intergenerationell verteilenden Systeme, also die Systeme, wo die Jungen die Alten versorgen, beitragsäquivalente Bedeutung mit den Geldbeiträgen zukommt.
Das System funktioniert weder ohne die Geldbeiträge, noch ohne die Kinder. Wir brauchen beides. Und es ist ein Verstoß gegen elementare Grundsätze der Gerechtigkeit, wenn wir dieser Leistung der Kindererziehung in den Beitragssystemen die Anerkennung versagen. Das ist im Grunde der Ertrag des Pflegeurteils, dass das Bundesverfassungsgericht sich diese These genau angeschaut hat, geprüft hat und zum Ergebnis gekommen ist: Ja, die Kindererziehung ist ein Beitrag, der nicht weniger wert ist als die Geldbeiträge und die Politik muss das in das System einbauen, und zwar auf der Beitragsseite.
Deutschlandradio Kultur: Sie sprachen kurz schon Ihre Dissertation an. Das liegt ja nun bald 40 Jahre zurück. Und die Familienpolitik, die Fragestellungen, die damit verbunden sind, hat Sie ja nie losgelassen. Woher rührt dieses, man kann schon sagen, lebenslange Engagement?
Jürgen Borchert: Ich bin zu dem Thema wirklich gekommen wie die Jungfrau zum Kind. Mein Berufsziel war, Anwalt zu werden. Ich wollte aber nicht die Koffer tragen bei irgendeinem Anwalt und da mir sozusagen meine Sporen mir verdienen, sondern wollte gleich selbständig sein. Und das Problem für junge Anwälte ist: Jungen Anwälten trauen die Leute nichts zu. Aber es gibt eine Ausnahme. Der Doktortitel ersetzt das Alter. Wenn da ein Doktortitel drauf steht, dann sieht das gleich ganz anders aus. Und ich hatte damals einen Vertrag mit der Universität. Der sah vor, dass ich ein Forschungsdrittel hatte. Da konnte ich machen, was mir wichtig war. Und wenn das Forschungsdrittel mit der Dissertation erfüllt war, dann hätte ich auch als Anwalt gleich einsteigen können noch während meiner Tätigkeit an der FU.
Dann habe ich gedacht, ich nehme mir ein Thema, was sich schnell bearbeiten lässt - internationaler Rechtsvergleich geht immer ruckzuck -, und gucke mir die Frage an: Kindererziehung und Alterssicherung im internationalen Vergleich.
Dann stieß ich gleich am ersten Tag meiner Literaturrecherche auf dieses Grundproblem unseres Sozialstaates, nämlich die Missachtung der Leistung der Kindererziehung in dieser großen Sozialreform 1957. Das hat mich tatsächlich nicht losgelassen, weil sich, je mehr man in dieses Thema einsteigt, desto mehr Ungeheuerlichkeiten entdecken lassen.
Jedes fünfte Kind ist auf Sozialhilfe angewiesen
Insofern muss ich gleich sagen: Das, was wir bei den Familien in Gestalt dieser doppelten Kinderarmut erleben, dass wir nämlich die Geburtenzahl seit 1965 halbiert haben von 1.350.000 auf heute nur noch 660.000 und dass wir es gleichzeitig geschafft haben, den Anteil der Kinder in Sozialhilfebezug auf das 16-Fache zu steigern, nämlich von jedem 75. Kind damals auf jedes fünfte Kind, in vielen Bezirken bei den Kindern unter sieben Jahren sogar jedes vierte, jedes dritte Kind, das hängt damit zusammen, dass unsere Verteilungssysteme vollkommen aus dem Ruder gelaufen sind.
Deswegen muss man gleich darauf hinweisen, dass die Familienarmut die Kumulation und die Kulminierung allgemeiner Verteilungsfehler ist.
Deutschlandradio Kultur: Das werden wir jetzt noch en detail ein wenig ausführen. Sie haben uns sozusagen schon mitten in das Thema reingeführt.
Herr Borchert, vergangene Woche wurde bekannt, dass die Große Koalition den steuerlichen Grundfreibetrag wie den Kinderfreibetrag erhöhen wird. Und dann soll auch demnächst das Kindergeld analog steigen. Damit haben die Familien dann etwas mehr Geld zur Verfügung, beim Kindergeld möglicherweise vier, vielleicht auch zehn Euro pro Kind im Monat. Insgesamt ist das doch eine gute Nachricht für Familien – oder etwa nicht?
Jürgen Borchert: Es ist auch die Konsequenz eines Verfassungsgerichtsurteils aus 1990. Damals hat das Bundesverfassungsgericht gesagt: Das Existenzminimum jedes Menschen muss steuerfrei bleiben. Da hat der Fiskus seine langen Finger rauszuhalten, weil, das Existenzminimum definiert die Grenze der Menschenwürde.
Auch Kindern muss das Existenzminimum gewährt werden
Deutschlandradio Kultur: Und bei Kindern sind das 7.005,00 Euro?
Jürgen Borchert: 7.008,00 seit Neuestem, ja. Das ist die Menschenwürde. Denn wenn der Fiskus da rumfummelt, dann ist der Staat auf der anderen Seite gehalten, das sofort in Form von Sozialleistungen wieder auszuschütten. Und das Interessante an der Entscheidung war damals, dass das Bundesverfassungsgericht gesagt hat: Ja, Menschen in diesem Sinne sind auch Kinder. Auch Kinder müssen ein Existenzminimum respektiert bekommen. Das ist die Entscheidung gewesen, seit der wir diese permanente Überprüfung der Existenzminima, auch um die Steuerfreibeträge zu definieren, haben.
Jedes Jahr muss das überprüft werden. Und was wir hier dieses Mal erleben, ist nichts anderes als sozusagen der Vollzug dieses Urteils. Ob das die Politik so gerne freiwillig machen würde, das ist sehr zu bezweifeln. Denn es ist die Ausnahme, dass die Politik mal solche Urteile befolgt. In diesem Fall war es also so klar und unmissverständlich, dass es da gar kein Wackeln gab.
Deutschlandradio Kultur: Und Kritiker sagen ja auch, die Politik hätte dieses schon in vergangenen Jahren nachvollziehen müssen, sie holt jetzt im Grunde nur nach. Das möchte ich da noch sozusagen anfügen. - Wenn wir jetzt aufs große Ganze schauen, Sie haben vorhin schon den Bogen gespannt, wenn wir jetzt noch mal genauer hinsehen, was läuft denn – große Frage – grundsätzlich falsch in der Familienpolitik?
Jürgen Borchert: Also, ich meine, wir haben ein Wahrnehmungsproblem. Das hat zu tun mit der herrschenden Ökonomie hierzulande. In der ökonomischen Lehre und in der ökonomischen Praxis sind Privathaushalte per Definition Orte des Konsums. Die Ökonomie ist völlig blind dafür, dass in den Privathaushalten die absolut wichtigste ökonomische Grundbedingung auf die Beine gestellt wird, nämlich das Humankapital oder richtiger Humanvermögen, nämlich die Nachwuchsgeneration, die die Zügel der Wirtschaft dann, wenn sie erwachsen ist, in die Hand nimmt.
"Die Alten sind Wähler, die Kinder nicht"
Deutschlandradio Kultur: Und die ja auch das umlagefinanzierte Sozialsystem am Laufen hält.
Jürgen Borchert: Klar. Um das mal verständlich zu machen, was da passiert, ist vielleicht das Beispiel vom Junggesellen gut, der seine Haushälterin, die bis dahin bezahlt gearbeitet hat, heiratet. Sie macht das plötzlich für ihn privat und persönlich. Die Arbeit ändert sich überhaupt nicht, aber sie verschwindet aus den volkswirtschaftlichen Rechenwerken und taucht erst dann wieder auf, wenn die sich scheiden lassen. Plötzlich taucht dieser Arbeit, die sich überhaupt nicht inhaltlich verändert hat, wieder in den Rechenwerken auf.
Dieses ökonomische Denken hat der große Nationalökonom Friedrich List schon vor 160 Jahren - der einzige deutsche Sozialökonom neben Karl Marx, der international berühmt geworden ist - auf die Pointe zu gebracht, dass in diesem ökonomischen Denken derjenige, der Schweine erzieht, ein produktives, und derjenige, der Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft ist, weil, Kinder laufen nicht über den Markt. Das ist das eine Problem, diese Wahrnehmung der Kinderökonomie.
Das zweite ist ein Repräsentationsproblem. Denn Kinder sind keine Wähler. Die Alten sind Wähler, die Kinder nicht. Das führt systematisch dazu, dass man Kinderinteressen aus dem Blick verliert. Die einzige Möglichkeit, die wir hätten, um das zu korrigieren, ist die Einführung eines Kinder- oder Familienwahlrechts. Da gibt es ja jede Legislaturperiode Initiativen quer durch alle Parteien, das endlich zu machen, damit uns klar wird, was los ist mit den Familien.
Familien sind bei den Markteinkommen systematisch benachteiligt
Das Nächste ist, dass von diesen Problemen, die ursächlich aus den Sozialversicherungssystemen, und zwar aus der Beitragsseite resultieren, unsere Eliten nicht betroffen sind. Diejenigen, die die Gesetze machen, die Abgeordneten, diejenigen, die sie exekutieren, die sie ausführen, die Beamten, und die, die im Streitfall darüber zu richten haben, die Richter, sind ja nicht in diesem allgemeinen Sozialversicherungssystem drin. Die spüren nicht, wie das wirkt und wie weh das tut, diese irrsinnige Abgabenlast da schultern zu müssen. Deswegen haben wir so ein Empathieproblem auch. Das sehe ich als ganz grundsätzlich an.
Und dann darf man nicht vergessen, dass das Familienproblem ja auch daraus resultiert, dass wir in einer Marktgesellschaft leben. Und die meisten Menschen, 90 Prozent, leben von abhängiger Beschäftigung. Und die abhängige Beschäftigung sieht immer nur die einzelne Arbeitskraft und fragt nicht danach, wie viele Mäuler zu stopfen sind. Das heißt, bei den Markteinkommen sind die Familien systematisch benachteiligt. Das müsste eigentlich in der sekundären Einkommensverteilung, da, wo der Staat mit Steuern und Sozialabgaben dazwischen geht, korrigiert werden.
Da wir aber unseren Sozialstaat durch die Löhne finanzieren und nicht alle anderen vielen Einkommen, die immer stärker in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zu Buche schlagen, dafür herangezogen werden, wird der Fehler der primären Einkommensverteilung in der sekundären nicht nur nicht korrigiert, sondern er wird verdoppelt.
Deutschlandradio Kultur: Deswegen doppelte Kinderarmut.
Jürgen Borchert: Und das ist das Hauptproblem, was wir haben, das die Sozialversicherung in dieser ungeheuerlichen Weise belastet, dass wir nämlich einen Sozialbeitrag haben, der erstens Kinder überhaupt nicht berücksichtigt, der zweitens linear proportionale Beitragstarife vorsieht. Das heißt, egal wie hoch die Einkommen sind, sie sind immer nach dem gleichen Beitragssatz bemessen.
Und dann haben wir in der Sozialversicherung noch die Ungeheuerlichkeit zu konstatieren, dass wir obere Beitragsbemessungsgrenzen haben.
Die Lösung: eine Bürgerversicherung für alle?
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, die Leute, die richtig viel verdienen, werden nur relativ wenig belastet.
Jürgen Borchert: Ja, wer mehr als 50.000 Euro in der Krankenversicherung und 70.000 bei der Rente hat, der hat die Schweiz mitten in Deutschland. Der braucht dafür keine Beiträge zu zahlen. Das heißt: Ausgerechnet die leistungsfähigsten Einkommen, die zur sozialen Verantwortung am ehesten in der Lage wären, werden aus dieser Verantwortung entlassen. Das führt dazu, dass wir eine Belastung haben, die man wissenschaftlich als „regressiv“ bezeichnet. Je kleiner die Einkommen, desto höher relativ die Last. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir in der Einkommensteuer als Gerechtigkeitsideal postulieren, dass nämlich die starken Schultern mehr zu tragen haben, nicht nur absolut, sondern auch relativ.
Deutschlandradio Kultur: Herr Borchert, war das jetzt im Grunde genommen - wenn ich frage, wie ließe sich das denn alles besser organisieren -, war das, was Sie jetzt ausgeführt haben, ein Plädoyer für die Bürgerversicherung, wo also Beamte und Unternehmer und Politiker mit einbezogen sind in den sozialen Sicherungssystemen und keiner sich mehr raushalten kann?
Jürgen Borchert: Ja natürlich, klar. Aus mehreren Gründen führt kein Weg an der Bürgerversicherung vorbei. Das heißt, wir müssen tatsächlich alle Einkommen, alle Personen hinein nehmen und dann Transparenz schaffen.
Wir können doch nicht weitermachen wie bisher, wenn wir feststellen, dass die Lohnquote, also der Anteil der abhängigen Beschäftigungseinkommen, am gesamten Einkommensvolumen der Republik ständig sinkt, und zwar relativ stark in den letzten Jahren, und auf der anderen Seite seit 2010 ein dynamischer, fast schon dramatischer Anstieg der altersbedingten Lasten zu konstatieren ist. Da hat sich diese Logik der Sozialversicherung, die einigermaßen stabile Bevölkerungsstrukturen voraussetzt, erledigt. Wir müssen da runter.
"Hütchenspiele der Politik"
Deutschlandradio Kultur: Herr Borchert, es gibt sicherlich viele, die Ihre grundsätzliche Kritik teilen. Es gibt aber auch andere Experten, die kommen zu gänzlich anderen Urteilen. Ich nenne mal das extremste Statement. Da wird vorgerechnet: Über 200 Milliarden Euro lasse sich der Staat Jahr für Jahr die Familienpolitik kosten, wenn man mal alle Leistungen zusammenrechne, heißt es da. – Soll also heißen, den Familien geht’s doch gut, was redet der Borchert da. – Was sagen Sie dazu?
Jürgen Borchert: Da möchte ich gerne nochmal eine ganze Stunde hier mit Ihnen drüber reden.
Deutschlandradio Kultur: Das geht leider nicht.
Jürgen Borchert: Nein, das ist wirklich ein abenteuerlicher wissenschaftlicher Müll, der uns da präsentiert wird. Es fängt damit an, dass diese Forscher viele Hütchenspiele der Politik überhaupt nicht kapiert haben.
Wir haben zum Beispiel in der Rechnung elf Milliarden Euro an Beiträgen für Kindererziehung in die Rente drin. Diese Beiträge an Kindererziehung in die Rente werden aber nicht für die Rentenanrechnung verwendet. Das sind nur wenige Milliarden. Und sechs, sieben Milliarden aus diesem Paket fließen in die allgemeine Rentenfinanzierung. Sie werden außerdem finanziert, und jetzt kommen wir zum springenden Punkt, aus dem Aufkommen der Mehrwertsteuererhöhung von 1998. Mehrwertsteuern sind Verbrauchssteuern. Verbrauchssteuern belasten Verbrauch entsprechend. Das heißt, je kleiner das Einkommen, desto höher ist zwangsläufig der Verbrauch. Das bedeutet, Familien haben auf jeder Einkommensstufe wegen ihres höheren Verbrauchs eine höhere Beteiligung an den Steuerlasten mit diesen Mehrwertsteuern und anderen, die auf dem Verbrauch lasten.
Da kommen wir zum zentralen Punkt bei diesen Studien: Die rechnen nur scheinbare Leistungen zusammen, da, wo der Staat sich in der Gloriole des Wohltäters sonnt. Und sie fragen nicht bei diesen ganzen Leistungen, wo das viele schöne Geld eigentlich herkommt. Und es kommt zu 40 Prozent aus den Sozialbeiträgen. Es kommt zu 30 Prozent aus Verbrauchssteuern. Da sind die Familien überproportional beteiligt. Es stammt aus dem sonstigen Steueraufkommen. Und bei den Lohnsteuern sind Familien ebenfalls zu unrecht überlastet.
Und wenn man das Ganze mal einbezieht, dann bleibt von der Rechnung überhaupt nichts übrig.
Die Politik hat die Verantwortung für den Arbeitsmarkt aufgegeben
Deutschlandradio Kultur: Herr Borchert, ein Aspekt der Familienpolitik ist auch das Thema Hartz IV. In Ihrem Buch „Sozialstaats-Dämmerung“ nennen Sie Hartz IV wörtlich „infam“. – Warum?
Jürgen Borchert: Weil man mit diesem Gesetz Opfer zu Tätern macht. Es wird ja mit dem Fördern und Fordern der Eindruck erweckt, als seien die Langzeitarbeitslosen schlicht und einfach zu faul, als würden sie ihren Hintern nicht hochkriegen. Das ist nicht nur empirisch total widerlegt, sondern wir wissen mittlerweile aus einer Flut von Forschungen, dass nirgendwo so gestrampelt wird wie in dem Bereich Hartz IV. Die Leute kämpfen ums Überleben und versuchen wieder Land unter die Füße zu kriegen.
Die Ungeheuerlichkeit, die uns die Politik hier serviert mit diesem Fördern und Fordern, liegt vor allen Dingen in der Tatsache, dass man den seit 1967 geltenden Grundsatz, dass die Politik makroökonomisch, also im volkswirtschaftlichen Rahmen, für die Verhältnisse des Arbeitsmarktes verantwortlich ist, über Bord geschmissen hat, und zwar mit den Maastricht-Verträgen.
Mit den Maastricht-Verträgen hat man das abgestimmte Instrumentarium, den Arbeitsmarkt zu schützen vor außenwirtschaftlichen Entwicklungen, abmontiert. Man hat sozusagen den Airbag vom nationalen Arbeitsmarkt abmontiert, weil man die Geld-, Währungs- und Zinshoheit und damit das wichtigste Instrument, verbunden sonst mit der Steuerpolitik, aus der Hand gegeben hat, nämlich an die EZB. Und das ist eben das Instrumentarium gewesen, was die Politik zur Verfügung hatte. Sie hat es aus der Hand gegeben.
"Nie beruhte Arbeitslosigkeit so wenig auf individuellem Versagen wie heute"
Und wenn man dann davon spricht, dass die Arbeitslosen verantwortlich wären für ihr Schicksal, ist das eine Ungeheuerlichkeit, weil es in der Geschichte der Republik noch niemals eine Situation gegeben hat, wo Arbeitslosigkeit so wenig auf individuellem Versagen beruhte, wie es heute der Fall ist. Wir wissen, dass in Gegenden mit Vollbeschäftigung, die gibt’s immer noch, der Anteil der „Hartzer“ bei unter einem halben Prozent liegt.
Deutschlandradio Kultur: Und im Freistaat Bayern insgesamt sind es 3,3 Prozent und in Berlin beispielsweise 16,7 Prozent. Also, jeder Sechste in Berlin lebt von oder mit Hartz IV, zumindest teilweise. - Ich will mal dagegen halten: Die Befürworter von Hartz IV verweisen darauf, dass seit dessen Einführung die Zahl der Arbeitslosen von über fünf auf rund drei Millionen zurückgegangen ist binnen zehn Jahren. – Ist das nichts?
Jürgen Borchert: Also: Da müsste man sich mal genau anschauen, wie hier die Arbeitslosen gerechnet werden. Da wird nämlich bei den Beschäftigten auch der Riesenanteil jener, die in prekärer Beschäftigung angelandet sind…
Deutschlandradio Kultur: Teilzeitjobs, Leiharbeit…
Jürgen Borchert: Ja, Minijobs, Teilzeitjobs, Scheinselbständigkeit und alles wird da ja mit eingerechnet. Damit wird verschleiert, dass das Arbeitsvolumen insgesamt seit 2000 geringfügig zwar, aber zurückgegangen ist. Es verteilt sich weniger Arbeit auf mehr Leute. Und das Ergebnis ist dann, dass wir feststellen, dass immer mehr Menschen mit ihrer harten Arbeit das Existenzminimum nicht mehr erreichen und auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, vor allen Dingen da nämlich, wo Kinder zu versorgen sind.
Kinder in Käfighaltung
Deutschlandradio Kultur: 40 Prozent aller, jetzt komme ich nochmal zu dem Punkt Familienpolitik und Hartz IV, 40 Prozent aller Alleinerziehenden sind Hartz IV-Empfänger. Das heißt, Vater oder Mutter, meist ist es die Mutter, sowie das Kind bzw. die Kinder leben von Arbeitslosengeld II. Oft haben diese Alleinerziehenden eine abgeschlossene Berufsausbildung. Sie wollen arbeiten, haben aber folgendes Problem: Der Arbeitgeber verlangt Schichtarbeit oder Wechseldienste. Kita oder Hort bieten eine Betreuung für den Nachwuchs von Schichtdienstlern aber nicht voll umfänglich an. Die Folge: Die Alleinerziehenden bleiben notgedrungen zu Hause und leben von Hartz IV. Das ist allgemein bekannt seit vielen, vielen Jahren. Es passiert aber kaum etwas, um das grundlegend zu ändern. - Was meinen Sie? Woher rührt diese Unentschlossenheit, die die Allgemeinheit viel Geld kostet und bei den Betroffenen sehr viel Frustration schafft? Das ist doch alles ökonomischer Irrsinn.
Jürgen Borchert: Was wir hier haben, ist tatsächlich das Problem, dass man versucht die Familien passgenau den Bedürfnissen der Wirtschaft anzupassen. Und dass sich Eltern dem verweigern, ist nur gut und richtig, weil der Zustand der öffentlichen Kinderbetreuung nicht so ist, dass man es breitflächig verantworten kann, Kinder abzugeben in Krippen, die dem internationalen Standard nicht entsprechen, sondern weit, weit darunter liegen. Da ist dem Kindeswohl nicht gedient, wenn wir Kinder sozusagen in die Käfighaltung stecken, sondern das schadet den Kindern, das schadet ihrer Bindungsfähigkeit, ihrer Bildungsfähigkeit.
Deutschlandradio Kultur: Das ist doch der volkswirtschaftliche Irrsinn, dass man nicht an der Stelle etwas unternimmt. Und auf der anderen Seite nehmen wir hin, dass jedes Jahr für Hartz IV 45 Milliarden ausgegeben werden.
Jürgen Borchert: Sie haben völlig Recht. Und es wäre noch viel besser zu regeln, wenn man endlich runter käme von dieser Sozialstaatsfinanzierung auf Kosten der Löhne. Denn das führt ja dazu, dass die Kluft zwischen Brutto und Netto so riesig wird und dass selbst relativ große Bruttoeinkommen, wenn man plötzlich Netto unterm Strich hinguckt, so winzig geschrumpft sind. Und je kleiner die Nettoeinkommen sind, desto größer werden die Hürden für den Einstieg in den Arbeitsmarkt, weil nämlich dann sich Arbeit tatsächlich nicht lohnt.
Und wenn dann das Kindeswohl noch so offenkundig in Gefahr ist, dann braucht man sich nicht zu wundern, dass wir diese Dramatik bei den Alleinerziehenden jedes Jahr neu und sogar jedes Jahr schlimmer erleben.
Nach wie vor wird beim Hartz-IV-Regelsatz getrickst
Deutschlandradio Kultur: Diese Woche kam eine Studie vom DGB. In der hieß es, dass beim Hartz-IV-Regelsatz, beim Höchstsatz, mindestens 45 Euro zu wenig gezahlt werden. Der Höchstsatz liegt jetzt aktuell seit dem 1. Januar bei 399,00 Euro. Ist dieser sogenannte Regelsatz in seiner Höhe aus Ihrer Sicht akzeptabel? – Ich unterstelle mal: Nein.
Jürgen Borchert: Also: Das ist eine Frage, mit der wir uns im 6. Senat beim Hessischen Landessozialgericht eingehendst beschäftigt haben, als wir an der Frage arbeiteten, ob die Regelsätze verfassungskonform sind.
Was wir festgestellt haben, ist, dass das System der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe die Bedarfe von Familien total unsystematisch angeht. Es werden überhaupt oder es wurden bisher überhaupt nur die Familien mit einem Kind betrachtet. Und das bedeutet, dass das Datenmaterial bei Mehrkindfamilien vollkommen unbrauchbar war. Man wollte das ändern bis 2015. Ich bin über den gegenwärtigen Stand nicht informiert.
Tatsache ist aber, dass man die Methodik der EVS dann noch einmal handgesteuert verändert hat. Und das ist etwas, was das Bundesverfassungsgericht eigentlich kategorisch verboten hat.
Wenn man sich für eine Methode entscheidet, dann darf man nicht beispielsweise die drei Flaschen Bier, die da im Monat verkonsumiert werden, durch Mineralwasser ersetzen und da sozusagen, was empirisch festgestellt wurde, normativ nochmal durch Steuerung beeinflussen.
Insofern kann man nur sagen: Die Trickserei ist nicht beendet. Es wird nach wie vor am Regelsatz rumgefummelt. Und das ist aus meiner Sicht nicht in Ordnung. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar eine zweite Auflage dieser Frage mit einer zurückweisenden Entscheidung beantwortet, aber in den Gründen steht wieder so viel, dass man sagen kann, die Hartz IV- Bemessung hat zum zweiten Mal aus Karlsruhe ein Veto erhalten.
"Soziales Chaos" rollt auf uns zu
Deutschlandradio Kultur: Aber im Grunde genommen hat sich ja trotz des Karlsruher Richterspruchs de facto für die Betroffenen wenig geändert. Sie schreiben in Ihrem Buch „Sozialstaats-Dämmerung“, das ist verfassungswidrig, was da läuft. – Frustriert Sie das?
Jürgen Borchert: Wenn Sie das ansprechen, dass wir ein Urteil aus Karlsruhe haben, was klare transparente Regelungen bei der Bemessung des Existenzminimums angeht, und die Politik dem nicht folgt, so haben Sie Recht. Es ist ein Skandal sondergleichen, dass man die Böcke wieder zu Gärtnern macht.
Denn verantwortlich für die Korrekturen der gemachten Fehler bei den Hartz IV-Gesetzen sind ja die gleichen Parteien gewesen, die damals mit dieser erdrückenden Mehrheit im Bundestag Hartz IV beschlossen haben. Das hat man nachvollziehen können in den Tag- und Nachttagungen des Vermittlungsausschusses, der ja erst im März 2011 fertig wurde, statt zum Jahresende 2010, dass man unglaublich viel wieder an Rechenkunststücken unternommen hat, um das Urteil im Sinne des Fiskus möglichst billig zu machen.
Deutschlandradio Kultur: Wenn man Ihnen zuhört, Herr Borchert, könnte man ja leicht auf die Idee kommen, Sie seien ein Vertreter der Linkspartei. Von der Politik werden Sie aber nicht so eindeutig wahrgenommen. Ganz unterschiedliche politische Parteien haben Sie schon als Sachverständigen angefragt. Auch im Auftrag des damaligen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch von der CDU, der ja nun wirklich kein Linker ist und war, haben Sie mal ein familienpolitisches Konzept verfasst. Davon ist aber nie etwas umgesetzt worden. - Man kann sagen: Sie und Ihre Ideen werden von den politisch Verantwortlichen gerne gehört und auch geschätzt, aber, wenn es dann zum Schwur kommt, nicht weiterverfolgt. – Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?
Jürgen Borchert: Also, es hängt einfach damit zusammen, dass wir da ein Wahrnehmungsproblem auch in der Öffentlichkeit haben, weil diese Probleme so schwierig zu verstehen sind. Es wird ja durch eine Versicherungsterminologie das Funktionieren des Systems, nämlich die schlichte Tatsache, dass die Kinder immer die gesamte Vorgängergeneration zu unterhalten haben, vollkommen unsichtbar gemacht.
Diesen intellektuellen Kraftakt, nämlich sich mal die Semantik da sauber zu putzen und mal sich genau anzugucken, was da eigentlich genau passiert, den müssen wir immer noch unternehmen. Da kämpfe ich also immer gegen komplettes Unverständnis an. Aber es ist gar keine Frage, dass sich die Verhältnisse inzwischen so dramatisch entwickeln, dass das soziale Chaos mit solcher versicherungsmathematischer Genauigkeit auf uns zu rollt, dass wir jetzt eine Situation haben, wo das politische Eigeninteresse der Politiker angegriffen wird – einfach deswegen, weil die Verhältnisse nicht mehr zueinander passen.
Ein Viertel der Kinder ist "nicht ausbildungsfähig"
Wir haben im Jahr 2030, das sind ja nur noch 15 Jahre, die geburtenstarken Jahrgänge von Anfang der 60er Jahre im Ruhestand. Das sind 1,2 Millionen. Denen stehen auf der anderen Seite die 600.000 Kinder von 2010 gegenüber. Von denen können Sie ein Viertel abziehen, weil die nicht ausbildungsfähig sind und noch nicht mal Hilfsarbeitertätigkeiten verrichten können, weil sie die Kulturtechniken des Lesens, Schreibens, Rechnens nicht beherrschen. Dann sind wir bei 450.000/ 500.000. Und dann müssen wir noch abziehen diejenigen High-Potentials, nämlich unsere Besten der Besten, die ins Ausland gehen. Das sind in den letzten zehn Jahren jedes Jahr über 100.000 gewesen.
Das heißt, wir stehen da hinterher mit 400.000 Leuten, die in den Beruf neu einsteigen. Denen stehen auf der anderen Seite 1,2 Mio. Rentner gegenüber, die versorgt werden wollen. Das kann man an fünf Fingern abzählen. Dafür reicht Adam Riese. Das funktioniert nicht.
Deswegen wird dieses Thema, was ich da seit 35 Jahren verfolge, demnächst wieder auf dem Tisch der Politik landen. Wir haben ja neue Klageverfahren bereits beim Bundessozialgericht. Die stehen im September zur Entscheidung an. Und spätestens dann werden wir uns über diese Fragen nochmal in aller Öffentlichkeit streiten müssen.
Deutschlandradio Kultur: Sie reden im Präsens und sagen, „wir werden“. Das führt mich zu meiner Schlussfrage mit der Bitte um eine kurze Antwort: Sie sind seit Kurzem nunmehr Pensionär. Der Fluch der Altersgrenze hat Sie erreicht. Ihr Engagement für die Sache ist, wie man eindrucksvoll hören konnte, ungebrochen. – Haben Sie was in nächster Zeit vor, zum Beispiel in Richtung neues Buch oder so etwas? Können Sie da was verraten?
Jürgen Borchert: Nein, es ist nur der Wechsel von der Pflicht zur Kür. Es gibt so irrsinnig viel spannende Projekte. Also, ich werde mich vor allen Dingen konzentrieren auf den Elternaufstand, der seit gestern offiziell eröffnet ist. Da gibt’s eine Homepage www.elternklagen.de. Da werde ich mich mit ganzer Kraft einsetzen, dass das zu einem Erfolg wird. Und dann bin ich auch intensiv daran beteiligt, juristische Strategien zu entwickeln, TTIP, CETA und TiSA, also diese völkerrechtlichen so genannten Freihandelsabkommen zu verhindern.
Drittens habe ich Enkelkinder, die ich gerne sehen werde. Und viertens bin ich ein begeisterter Bergsteiger und habe mir noch ein paar hohe Berge vorgenommen, weil das das Beste für den langen Atem ist.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank, Herr Borchert.
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