"Songs of Suffering" über Flucht und Vertreibung

2000 Jahre und beängstigend aktuell

Koffer und Taschen stehen vor einem Wohnhaus auf dem Gelände der Zentralen Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber (ZAE) in Zirndorf (Bayern).
Vertreibung: Die Problematik ist tausende Jahre alt. © dpa / picture alliance / Daniel Karmann
Von Claus Fischer · 09.11.2015
Viele Klagelieder des Propheten Jeremia aus dem Alten Testament sind schon in der Renaissance für Gottesdienste vertont worden. Einigen der verbliebenen hat sich nun der Komponist James Wood angenommen. Und er zeigt, wie aktuell die alten Lieder sind.
Die Stadt ist verwüstet, Heiligtümer sind vernichtet, die Bewohner getötet oder verschleppt, bis auf diejenigen, die vor dem Inferno fliehen konnten. Ihnen stehen Hunger und Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Beschrieben wird hier nicht der aktuelle Bürgerkrieg in Syrien, sondern die Zerstörung Jerusalems im Jahr 586 vor Christus. Der Text gehört zu den Klageliedern des Propheten Jeremia im Alten Testament...
Die Klagelieder des Propheten, die sogenannten "Lamentationes", spielen in der christlichen Tradition eine wichtige Rolle, sie wurden und werden in den Gottesdiensten der Karwoche gelesen und gesungen, denn man hat sie auf den Tod Jesu hingedeutet. Sakralkomponisten der Renaissancezeit, darunter der Portugiese Alonso Lobo und der Engländer Thomas Tallis, haben Vertonungen geschaffen, die in ihrer Eindrücklichkeit auch heutige Hörer absolut faszinieren...
Eine naheliegende, aber geniale Idee
Seit drei Jahren ist das Vocalconsort Berlin mit dem englischen Dirigenten und Komponisten James Wood verbunden. Unter seiner Leitung haben die Sängerinnen und Sänger bereits die "Sacrae Cantiones" von Gesualdo di Venosa auf CD produziert, dafür wurden sie vor zwei Jahren mit einem "Echo Klassik" ausgezeichnet. Im Zuge der Zusammenarbeit mit James Wood entstand nun auch der Konzertabend "SOS – Songs of Suffering" mit alter und ganz neuer Musik.
"James Wood hat dieses Projekt an uns herangetragen und gefragt, ob wir dieses Projekt mit ihm stemmen wollen und das haben wir getan..."
...sagt Kai-Uwe Fahnert, einer der beiden Geschäftsführer des Ensembles. Die Idee ist so genial wie naheliegend. Die Komponisten der Renaissance haben längst nicht alle Klagelieder des Propheten Jeremia vertont, sondern nur diejenigen, die für die Liturgie des Gottesdienstes brauchbar waren.
"Wie schade ist es, dass eigentlich so wenige von diesen Texten traditionell vertont wurden..."
...stellte James Wood fest. Und so entschloss er sich, drei der Klagelieder, von denen es keine historischen Vertonung gibt, selbst in Musik zu setzen. Er wählte dazu eine gemäßigt moderne Tonsprache, also eine Mischung aus atonalen und tonalen Kompositionstechniken.
Frappierende klangliche Mischung
"Natürlich leben wir jetzt in so einer postmodernen Welt, ästhetisch. Die Musik bleibt in einer Tonart, die ich aus einem altgriechischen Modus heraus entwickelt habe. Und es gibt Dreiklänge, die man hört ganz häufig. Und die Dreiklänge stellen den Erlöser dar."
Zum zwölfköpfigen Chor kommt ein Instrumentalensemble, besetzt mit zwei Klarinetten, einem Akkordeon und einer Viola da Gamba.
"Also, all diese Instrumente haben eine Ähnlichkeit, und das ist, dass sie einen Ton von absolut nichts aus anfangen können. Also sie können von Ruhe anfangen und dann wieder verschwinden..."
Die klangliche Mischung zwischen den Singstimmen und den Instrumenten ist frappierend, an einigen Stellen im Stück kann man Klarinette, Game und Akkordeon nicht mehr heraushören, die Obertöne fallen mit den menschlichen Stimmen zusammen. Das war von James Wood auch beabsichtigt und für das Vocalconsort Berlin eine ziemliche Herausforderung, betont Ensemblemitglied und Geschäftsführer Kai-Uwe Fahnert.
"Er weiß sicherlich, was Sängern zuzumuten ist, aber mit dem Anspruch der Komposition ist er schon an der Obergrenze angelangt..."
Bezug zur Gegenwart geschaffen
Um auch inhaltlich einen Bezug zur Gegenwart zu schaffen hat James Wood neben den Texten aus dem biblischen Jeremia-Buch auch Schriften von Kriegsopfern unserer Zeit in sein Stück eingefügt. So heißt es zum Beispiel an einer Stelle: "Der tosende Krach ließ mein Trommelfell platzen. Und ich begann, über meine verletzte Stadt und mein verwundetes Land zu weinen." Solche Texte inspirierten den bildenden Künstler und Raumdesigner Arnim Friess.
"Das Stück von James Wood nimmt ja Bezug darauf, dass die Vertreibungsproblematik gar nicht neu ist, sondern dass man da auf 2000 Jahre zurückschauen kann. Und die Bilder und Texturen, die ich verwendet habe, stellen diesen Kontext her. Wir benutzen Texturen von Ruinen aus Aleppo, die sind 2000 Jahre alt. Und die werden dann vermischt mit Texturen von Ruinen aus Aleppo, die sind nur zwei Monate alt. Es ist nicht nur religionsbezogen, es geht um Flüchtlinge als Menschen, es geht eher darum, dass es Zivilisten sind, die am meisten leiden.
Songs of Suffering – Lieder des Leidens, sie werden wohl auch in Zukunft immer wieder gesungen werden, in Syrien, in der Ukraine und anderswo. Das neue Werk von James Wood öffnete dafür im wahrsten Wortsinn die Ohren der Zuhörer - in einem reichen Land, in dem Leidenden Zuflucht finden, und das hoffentlich auch in Zukunft.
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