Simon Rattles "Vermächtnis"

Energiegeladen, ehrlich, wild

Chefdirigent Sir Simon Rattle bei einer Probe mit den Berliner Philharmonikern.
Sir Simon Rattle hat Beethovens neun Sinfonien mit den Berliner Philharmonikern auf der ganzen Welt aufgeführt. © picture alliance / dpa / Jakub Kaminski
Von Ulrike Timm · 27.05.2016
Rund zwei Jahre vor seinem Abschied von den Berliner Philharmonikern arbeitet Dirigent Simon Rattle an seinem Vermächtnis. Teil des Ganzen ist eine Gesamtausgabe der neun Beethoven-Sinfonien, mit Bonusmaterial und Downloadcode.
"Man kann Beethoven zu elegant oder zu raffiniert spielen, man kann ihn zu sehr glätten und so tun, als sei er mit sich im Reinen gewesen, obwohl er oft mit sich kämpfte. Ich denke, je direkter diese Musik klingt, umso besser", sagt Simon Rattle.
Die Berliner Philharmoniker und ihr Chefdirigent machen den Erzähler, den Rhetoriker Beethoven erfahrbar, sie suchen und erforschen die explosive Kraft seiner Sinfonien. Musik, die auf dem Resonanzboden der gesellschaftlichen Umwälzungen durch die Französische Revolution entstand, und die Beethovens Zeitgenossen durchschüttelte - emotional, intellektuell und musikalisch.
Können wir heute noch - oder wieder - spüren, dass Musik solche Kräfte freisetzen kann? Wenn man sich so klug und zugleich so risikofreudig hineinstürzt wie Sir Simon und seine Musiker, bekommen wir zumindest die Chance dazu. Beethoven als Stürmer und Dränger, der Komponist, der alle damals gerade erst etablierten Konventionen des Sinfonie-Komponierens gleich wieder über den Haufen wirft, und dessen Werk nicht zuletzt getragen wird von der Vorstellung, aufklärerische und humane Ideale in Tönen auszudrücken. Und der dann doch auch ganz anders kann, leise, innig, schlicht und frei von allem Pathos.

Jede Sinfonie erhält ihr eigenes Klanggewand

Die frühen Beethoven-Sinfonien sind noch von Haydns Klang inspiriert - die Berliner Philharmoniker spielen sie in deutlich schlankerer Besetzung als die späteren, und für die Neunte darf dann der gesamte imposante romantische "Apparat" auf's Podium. So differenziert besetzt und beleuchtet bekommen "alle Neune Beethovens" ihr jeweils ganz eigenes klangliches Gewand.
Und klar, die 5., die mit dem Motto, das jeder zuverlässig schmettern kann, auch wenn er noch nie ein Beethoven-Werk vollständig erlebt hat, die 5. macht ordentlich Krach.
Es war bestimmt nicht einfach für Sir Simon, mit Beethovens 5. auf die Bühne zu gehen - vor ihm hatte der kürzlich verstorbene Nikolaus Harnoncourt dieses Werk gemeinsam mit den Philharmonikern musiziert, es war 2011 sein letztes Konzert in Berlin. Und es klang so elementar urgewaltig, als sei Beethovens meiststrapazierte Musik gerade eben erst entstanden. Rattle verehrt Harnoncourt tief und hat selbst viel Erfahrung mit Aufführungspraxis und Ensembles, die auf alten Instrumenten spielen.

Die sprechende Dramatik Beethovens kommt zur Geltung

Auch mit den Philharmonikern hat er viel alte Musik erarbeitet, Haydn, Bach, Rameau - das zahlt sich jetzt für Beethoven einmal mehr aus. Die lebhafte Kommunikation zwischen den Stimmen klingt selbstverständlich, Transparenz bleibt auch im kraftvollen Orchestergetöse gewahrt, und die sprechende Dramatik Beethovens kommt zur Geltung, ohne dass der Dirigent seinen Musikern aufgezwungen hätte, so klingen zu sollen wie etwa das Orchestra of the Age of Enlightenment, ein Originalklangensemble, mit dem Rattle ebenfalls eine lange musikalische Partnerschaft verbindet.
Das würde ja auch gar nicht gelingen. Die Berliner Philharmoniker bleiben die Berliner Philharmoniker, mit ihrem eher dunklen, aus der Tiefe heraus entwickelten Klang und modernen Instrumenten. Aber sie haben in der Ära Rattle eine Leichtigkeit und Beweglichkeit hinzugewonnen, über die sie vorher in diesem Ausmaß nicht verfügten - insofern stecken in diesem einen heute viele Orchester, je nach Repertoire mit spezifischem Klang.
Ein Haydn-Orchester mit Witz und Trennschärfe, ein Debussy-Ravel-Orchester mit hell glitzernden Farben - und wo gewünscht, kann man immer noch den polierten Luxusdampfer geben, bei Tschaikowsky zum Beispiel Wenn also vereinzelt gefragt wird, was denn nun eigentlich der "typische Rattle-Sound" sei, dann ist es die natürliche Folge dieser Entwicklung, dass es ihn so nicht gibt und auch nicht geben kann. An die Stelle eines personalisierten Dirigentensounds ist die größere stilistische und klangliche Vielfalt getreten - eigentlich wichtiger, und mehr! Beethoven profitiert davon.

Berliner Philharmoniker spielen schnörkellos

Manchmal stürzen sich die Berliner Philharmoniker mit einer Rasanz in seine Klänge, als wollten sie testen, wann sie ganz knapp gerade eben nicht aus der Kurve fliegen. Es wird weitgehend Ernst gemacht mit Beethovens Metronomangaben, und die peitschen nach vorne. Es bleibt Geschmackssache, ob man ab und zu auch einen Beethoven "wie auf Speed" hören mag und dafür aufs eine oder andere Detail verzichtet - aber eben zugunsten der Schleuderkraft, die seine Musik dann entfaltet. Und wenn im Finale der 7. gleich sechs Kontrabässe den Geigen im Nacken sitzen und sich gegen Ende in die nervös wirbelnden Oberstimmen geradezu hineinbohren, dann ist das großartig.
Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker spielen energiegeladen, schnörkellos, ehrlich und wild. Beethoven eben. Mehr geht doch nicht.
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