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Nicht nur Klezmer

Die Renaissance des Klezmer begann vor etwa zehn Jahren. Heute ist die jüdische Folkloremusik in aller Munde. Umso mehr erstaunt es, dass sie nun erstmals an einer deutschen Universität wissenschaftlich erforscht wird. An der Uni Potsdam laufen drei Projekte, die sich der Pflege des jüdischen Liedgutes aus Osteuropa verschrieben haben - darunter eines, das die ältesten Aufzeichnungen von jüdischer Musik überhaupt erforscht.

22.10.2002
    In der Lehrveranstaltung von Aaron Eckstaedt wird manchmal getanzt und meistens gesungen. Es geht fröhlich zu, die Studierenden kommen gerne. Jüdische Musik als Objekt der Wissenschaft haben sie erst hier entdeckt, etwa Patrick Völker.

    Es steckt viel Geschichte dahinter, sehr viel Leid von Juden, das ist nicht eine Musik wo man nur sagt, das ist groovy, es kommt immer noch eine andere Dimension dazu.

    Bisher wurde Jüdische Musik in Israel und den USA erforscht. Auf europäischem Boden ist Potsdam die erste Universität, die sich um dieses Kulturgut kümmert. Ein dreitägiger Kongress, der heute zu Ende geht. soll den neuen Forschungsschwerpunkt "Jüdische Musikkultur in Osteuropa" vorstellen. Denn: Alle hören Klezmer, aber wenige wissen, welchen Stellenwert Musik in der jüdischen Kultur hatte und hat. Karl E. Grözinger, Professor für Religionswissenschaft am Kollegium jüdische Studien der Universität Potsdam.

    Ich habe auch schon drei Konzerte veranstaltet mit jüdischen Oratorien & jüdischer Kantatenmusik aus Handschriften des 18. Jahrhunderts. So wie Bach für Weihnachten und Ostern Oratorien geschrieben hat, so haben auch jüdische Musiker oft mit den gleichen Musikstilen im 18. Jahrhundert solche Dinge gemacht, und auch das ist unbekannt. Auch die Volksmusik, die ja religiöse Valenz hat, bestimmt den religiösen Alltag. Es gibt viele religiöse Lieder, wo etwa die Mutter an der Wiege singt und Gott anruft, dass er über den Schlaf des Kindes wachen soll, das sind tief religiöse Texte.

    Dozent Aaron Eckstaedt gibt nicht nur im Umfeld des Kongresses selbst Klezmer-Konzerte. Er ist einer jener fünf Potsdamer Wissenschaftler, die an drei Projekten zur Erforschung osteuropäischer jüdischer Musik mitarbeiten. Das spektakulärste widmet sich 500 alten Wachswalzen aus St. Petersburg.

    Das sind die ersten authentischen Feldaufnahmen jüdischer Musik, die wir vorliegen haben, und von denen wir beinahe 50 Jahre geträumt haben, weil immer wussten wir, dass diese Aufnahmen in russischen Archiven existieren, aber wir hatten sie nie, und sie wurden für verschollen gehalten und erst vor wenigen Jahren wieder entdeckt.

    Digitalisiert wurden die Walzen schon in Russland, in Potsdam arbeiten die Forscher in den kommenden vier Jahren an der Katalogisierung. Am meisten erstaunt Aaron Eckstaedt, dass fast alle dieser Lieder aus den 30er und 40er Jahren heute unbekannt sind.

    Ich habe in den letzten Wochen fast alle Walzen noch mal durchgehört, und von 500 Liedern kennen wir ca. 20. Man denkt manchmal, dass das Repertoire was in deutschen Klezmerbands gespielt wird, dass das nur 30 Lieder und 30 Klezmer-Stücke sind. Jetzt wo wir Kontakt zu dem Eigentlichen haben, stellen wir fest, es gab viel viel mehr, und es gab etwas ganz anderes. Die Lieder, die wir heute singen, die kannte man damals nicht. Es waren ganz andere Stücke, die wichtig waren.

    Ein Beitrag von Gudrun Sailer