RIAS Kammerchor auf Europa-Tournee

Ein Klang wie aus einer anderen Welt

Die Sängerinnen und Sänger des RIAS Kammerchors
Die Sängerinnen und Sänger des RIAS Kammerchors © RIAS Kammerchor / Matthias Heyde
Von Haino Rindler · 13.12.2016
Das Weihnachtsoratorium von Bach ist eines der ganz großen Kunstwerke dieser Welt, meint der Dirigent Hans-Christoph Rademann. Zusammen mit dem RIAS Kammerchor geht er vor Weihnachten auf Europa-Tournee - um eine Botschaft zu vermitteln, die gerade heute wichtig ist.
"Wir haben ja zurzeit unruhige Zeiten. Und in den unruhigen Zeiten jetzt mit einer Friedensbotschaft eine Europatournee zu machen, halte ich für eine ganz große Chance. Und wenn es uns gelingt herauszuarbeiten, dass die Figur, die dort beschrieben wird, nämlich Jesus, der Sohn Gottes, in die Welt gekommen ist ohne eine einzige Möglichkeit sich zu wehren und das mit voller Gewaltlosigkeit von Anfang bis Ende durchgezogen hat, sein Leben und Sterben und nur vom Frieden gesprochen hat, dann finde ich, ist das eigentlich eine unglaublich aktuelle Geschichte. Ich bin davon überzeugt, dass diese Inhaltsstoffe, die das Weihnachtsoratorium in sich hat, das Nachdenken über diese Botschaft, durchaus eine Relevanz hat."
Hans-Christoph Rademann hat gerade den ganzen Tag mit den Musikern des Freiburger Barockorchesters geprobt, die Zeit ist knapp und dennoch: es läuft, Dirigent und Musiker finden eine gemeinsame Sprache. Rademann hat das Weihnachtsoratorium schon unzählige Male dirigiert, selbst mit dem RIAS Kammerchor, doch wenn er so über die Partitur gebeugt dasteht, dann fallen ihm immer wieder neue Stellen auf, die er vielleicht noch aus einer anderen Perspektive betrachten könnte.
"Ja, das ist eben eines von diesen großen Kunstwerken, die es eben gibt auf dieser Welt, bei denen man keinerlei Verschleiß erlebt – also ich nicht, als Musiker. Ich habe dieses Jahr ein anderes Herangehen als letztes Jahr. Das kann ich auch nicht ändern, das ergibt sich einfach aus dem Inhalt oder auch aus dem, dass man jetzt weitergelebt hat, man hat wieder neue Dinge erlebt, Inspiration bekommen. Also wenn Sie jetzt meine Chörale vergleichen würden mit vor zwei Jahren, da würden Sie dem Schluss kommen, das könnte ein anderer Dirigent sein."

Impulse, das Gewohnte neu zu denken

Als Mensch an Bach wachsen, diesem Motto scheint sich Hans-Christoph Rademann verpflichtet zu haben. Gerade spielt er parallel mit seinem neuen Chor, der Gächinger Cantorey, das Weihnachtsoratorium ein, basierend auf der neuen kritischen Stuttgarter Ausgabe. Nicht ganz so drastisch, sagt der Dirigent, seien die Veränderungen im Vergleich zur neuen Notenausgabe der H-Moll-Messe. Aber sie geben Impulse, das Gewohnte neu zu durchdenken. Eine Botschaft rückt dabei besonders in den Mittelpunkt.
"Die zweite Kantate vom Weihnachtsoratorium handelt ja von den Hirten. Die Hirten sind alle Menschen auf dieser Welt. Wir sind da alle gemeint. Es wird uns eine wichtige Botschaft überbracht und wir verpassen das."
Ein Klang wie aus einer anderen Welt: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Ein mystischer Moment, meint Hans-Christoph Rademann, der den Eindruck vermittelt, als würde der ganze Himmel mitklingen.
"Es ist großartig von Bach gemacht, und es bedarf einer solchen großen Energie, um Menschen dazu zu bewegen, dass sie sich von A nach B bewegen oder irgendwas tun, was wichtig ist. Und das, finde ich, ist doch eine unglaublich tolle Sache für das Publikum. Und ich bemühe mich eben mehr und mehr darum, diese ganzen Faktoren so klar und sicher herauszuarbeiten, dass sie auch den Hörer nicht verfehlen."
Manche Dinge lassen sich allerdings nicht ohne weiteres vorführen.
"Allerdings ist es so: Der Bauplan der ersten drei Kantaten ist mit einer Symmetrieachse. Eine Symmetrieachse bedeutet, dass das Ganze auf einen Mittelpunkt zugeht und wieder zurückgeht zu einem Ausgangspunkt, oder wie ein Flügelaltar, der hat ein Mittelbild und zwei Seitenbilder. Der Mittelpunkt der ersten drei Kantaten ist Nr. 17, die ist zahlenmäßig und auch tonartlich der Mittelpunkt: ein Rahmen von D-Dur, dann ein G-Dur-Rahmen und da drinnen ein C-Dur-Rahmen, also im Quintenzirkel zwei Quinten nach unten gedacht. Warum? Weil es heißt: 'Er liegt im finsteren Stall und hat nichts.'"

Ein Werk voller Denkanstöße

Symbolik und sinnliches Erleben gehen im Weihnachtsoratorium Hand in Hand – ein Werk in hellem Dur, das trotzdem so viele Warnungen und Denkanstöße besitzt, dass auch ein erfahrener Dirigent wie Hans-Christoph Rademann immer wieder ins Grübeln kommt.
"Letztendlich ist die Quintessenz des ganzen Weihnachtsoratoriums die, dass durch Jesus und das, was er dann tun wird, die Todfeinde Jesu, also die Feinde auch des Menschen: der Tod, die Sünde, die Hölle, besiegt sind und im Prinzip für tot erklärt werden am Schluss, schachmatt gesetzt. Und das ist auch theologischer Sicht ein ganz großer Wurf."
Es fällt sicher manchmal schwer, diesem Glauben und der Zuversicht Bachs zu folgen in Zeiten, in denen die Welt am Abgrund zu stehen scheint. Aber auch dafür hatte der Komponist und Theologe Bach Antworten, die verschlüsselt im Lieblings-Weihnachtsoratoriums-Stück von Hans-Christoph Rademann stecken. Und welches ist das?
"Auf jeden Fall der Choral 'Ich steh' an deiner Krippen hier'. Ich kann das auch begründen. Erstmal ist es wunderschön in Töne gesetzt. Aber die grundsätzliche Idee, die dahinter steht ist ja die, man steht dort und hat nichts. Die Hirten hatten ja nichts, die hatten kein Gold, keinen Weihrauch und keine Myrre wie die Könige. Die haben sich dann selbst verschenkt, die Hirten. Und dann sage ich mir, wenn einer dasteht und sich selbst verschenkt – er sagt: Ich schenke mich – da muss er zu sich selber stehen, sonst würde er sich gar nicht verschenken. Und dieses Selbstbewußtsein, was dahinter ist in diesem Verschenkungsvorgang, das begeistert mich absolut."
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