Patti Smith: "M Train. Erinnerungen"

Traumverlorene Beschwörung der Toten

Patti Smith bei einem ihrer Auftritte
Patti Smith: Ihre zweite Autobiografie hat Züge eines Requiems, urteilt Gerrit Bartels. © picture alliance / dpa
Von Gerrit Bartels · 13.04.2016
Zwiegespräche mit den Toten ihres Lebens und Besuche an deren Gräbern: Mit autobiografischen Skizzen driftet Patti Smith durch Zeiten und Räume. "M Train" ist nach "Just Kids" das zweite Erinnerungsbuch der Musikerin und Fotografin – aber nicht dessen Fortsetzung.
Am Ende ihres ersten, 2010 erschienenen autobiografischen Buches "Just Kids" stellte Patti Smith fast ein wenig verzweifelt die Frage: "Warum kann ich nicht etwas schreiben, dass die Toten zum Leben erweckt?" Und bekannte: "Das ist mir das brennendste Bedürfnis." Doch auch sie weiß, dass am Ende immer nur ein paar Dinge bleiben, die an die Toten erinnern - und eben die Erinnerungen selbst. Im Fall von "Just Kids" waren das die an den Star-Fotografen Robert Mapplethorpe, mit dem Patti Smith in den frühen 70er Jahren zusammen lebte und arbeitete.

Zwiegespräche mit den Verstorbenen

Auch ihr zweites Erinnerungsbuch "M Train" trägt Züge eines Requiems, einer Totenbeschwörung: Der Toten aus Patti Smith' eigenen Leben, wie ihr Ehemann Fred "Sonic" Smith, der 1994 verstarb, ihr Bruder Todd (ebenfalls 1994) oder ihre Eltern. Und jener Toten, die sie bewundert, die sie künstlerisch beeinflusst haben und deren Gräber und Gedenkstätten sie immer wieder aufsucht, wie Sylvia Plath, Bertolt Brecht, Akira Kurosawa, Jean Genet oder Frida Kahlo. Manchmal wirkt es, als halte Patti Smith richtiggehend Zwiegespräche mit ihren Toten, was ihrer Prosa etwas Verhangenes, Traumverlorenes gibt - nicht zuletzt, weil sie sich selbst nur allzu gern in Träumen verliert, "Bilder von Träumen" betritt. Darin trifft sie häufig einen Cowboy, einen schönen "philosophischen" Cowboy (das ist im Übrigen der noch sehr lebendige Sam Shepard, mit dem Smith mal eine Affäre hatte und dem ihr Buch gewidmet ist), der ihr auch den ersten Satz des Buches beschert: "Es ist nicht so leicht, über nichts zu schreiben."
Viel mehr als nichts hat Smith aber doch zu berichten, wenn sie in ihrem Buch durch Zeiten und Räume driftet und sich mehr noch als in "Just Kids" einer strengen Chronologie verweigert. "Wenn ich über die Vergangenheit schreibe, während ich in der Gegenwart verweile, bin ich dann noch in der Echtzeit?", fragt sie einmal und beantwortet die Frage damit, dass sie hin und her springt in ihren Erinnerungen: Mal in ihre Kindheit, mal in ihre jüngere Vergangenheit, in der sie sich auf Reisen begibt, nach Berlin, Japan oder Mexiko, am liebsten aber, wie es scheint, in die Zeit mit ihrem Mann Fred, dem MC5-Musiker und Vater ihrer Kinder.

Vergangenheit und Gegenwart verknüpfen

"M-Train" ist keine Fortsetzung von "Just Kids", das ja hauptsächlich von ihrer Freundschaft zu Mapplethorpe und ihrer Künstlerinnenerziehung erzählt, schon gar kein Bericht aus dem Rockbusiness. Das Buch enthält vielmehr autobiografische Skizzen, die Smith' Vergangenheit mit ihrer Gegenwart verknüpfen: Einer Vergangenheit mit Fred vor allem, wie ein nachgetragener Liebesbrief liest sich das manchmal. Und einer Gegenwart zwischen ihrer Wohnung in Manhattan, ihren Stammcafés und Rockaway Beach, wo sie sich ein kleines Haus gekauft hat (was aber noch vor Renovierung und Erstbezug von Wirbelsturm Sandy schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde).
Manchmal wird Smith eine Spur arg esoterisch, wenn sie sich zu lange in ihren Träumen aufhält, sie zu viele Zeichen deutet (auch Fred Smith starb, als es gerade schwer stürmte), wenn sie glaubt, dass ihre Uhr keine Zeiger hat. In der Wirklichkeit ist Patti Smith besser, überzeugender, gerade wenn sie von ihren seltsamen, von ihrer Polaroid-Kamera dokumentierten Reisen erzählt. In Reykjavik trifft sie den psychisch angeschlagenen Schachspieler Bobby Fischer, in Marokko, für die deutsche "Vogue", den schon sehr kranken Schriftsteller Paul Bowles. Oder sie hält in Berlin einen Vortrag über die letzten Stunden des Polarforschers Alfred Wegener. Dass aber selbst ihre Stunde naht, ist ihr bewusst. Sie schreibt, eine Linie "überschritten" zu haben und "der Wirklichkeit meiner Chronologie" verhaftet zu sein. Geradezu berührend wird es, als sie fast flehentlich die verlorene Zeit zu finden versucht: "Ich möchte die Stimme meiner Mutter hören. Ich möchte meine Kinder als Kinder sehen. Kleine Hände, flinke Füße. Alles verändert sich. Bitte bleibt für immer, sage ich zu den Dingen, die ich kenne. Geht nicht fort. Werdet nicht groß."

Patti Smith: M Train. Erinnerungen
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
330 Seiten, 19, 90 Euro

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