Opern-Dolmusch

Mit Gesang auf der "Gastarbeiterroute"

Taxi in Istanbul
Mit einer Art Sammeltaxi ist die Komische Oper Berlin nach Istanbul gefahren. © dpa / picture alliance / Lars Halbauer
Von Gerd Brendel · 08.06.2016
"Dolmusch", so heißen die Sammeltaxis in der Türkei. "Opern-Dolmusch" heißt der Tourbus, mit dem die Komische Oper Berlin nach Istanbul gefahren ist − auf der alten Urlaubsroute der türkischen Gastarbeiter.
Ein bisschen unsicher lächelt er noch, der fremde junge Mann im Trenchcoat, wie er da mit Koffer, Kassettenrecorder und einem Teppich unter dem Arm in den Saal hereinstolpert. Willkommen in Sofia!
Der holzvertäfelte Raum in einem Kulturzentrum aus den sozialistischen 70er-Jahren wird gerne für standesamtliche Trauungen genutzt. Jetzt macht hier das Opern-Dolmusch auf seiner Reise nach Istanbul Station. Der Aufbau dauert keine halbe Stunde. Ein Tisch, ein Stuhl, drei Pulte für die Musiker: Violine, Kontrabass und Akkordeon, eine spanische Wand für die beiden Solisten: die Sopranistin Juliane Domke und der Tenor Johannes Dunz. Um seine Geschichte geht es hier:
"Ich verkörpere den Gastarbeiter. Von Vorfreude über Zweifel, Sehnsucht, aber natürlich auch Happy End."
Aber bevor es soweit ist, muss erst mal der Arbeitsalltag in der neuen Heimat bewältigt werden.
"Dieses Ankommen in einer Realität, die damit zu tun hat, dass man sehr sehr viel mehr zu tun hat, als man eigentlich schaffen kann…"
Zusammen mit der Regisseurin Anisha Bondy hat die mitreisende Dramaturgin Johanna Wall die Gesangsnummern ausgewählt:
"Es gibt die fantastische Überforderungsarie."
Rossinis Barbier als Prototyp des überfleißigen Gastarbeiters. Wie bei jeder Aufführung lachen auch hier in Sofia die Zuschauer, wenn Figaro hektisch seine Friseurscheren aus dem Koffer räumt und einen Zuschauer auf seinen Frisierstuhl holt.
"Hier geht’s darum zu realisieren, dass man durch das Weggehen sich auch für was entschieden hat, was ein Rückkehren in diese alte Welt ganz schön schwierig macht, und das ist dann auch der Übergang schon zur nächsten Arie."
Die Arie der kleinen Wassernixe Rusalka aus Dvoraks gleichnamiger Oper.
Rückkehr auf Zeit: Das war für die Arbeitsmigranten der jährliche Heimaturlaub im vollgepackten Auto Richtung Italien, Griechenland oder Türkei.
"Man muss mal ab und zu verreisen", singen Domke und Dunz in einem Duett von Nico Dostal. Im Handumdrehen wird der Frisiertisch zur Autofront.

Mit Gänsehaut zurückkommen

Das Team vom Opern-Dolmusch reist im Kleinbus und lässt sich ein paar Tage mehr Zeit als die Gastarbeiterfamilien, nicht nur für die Aufführungen, auch für Nachgespräche. Gespielt wird nicht in großen Häusern, sondern Nachbarschaftszentren, kommunalen Kinos oder Mehrzweckräumen. Wie in Berlin will das Opern Dolmusch Menschen vor Ort erreichen, die nicht unbedingt zum klassischen Opernpublikum gehören. Projektleiter Mustafa Akça, selbst ein Gastarbeiter-Kind:
"Man weiß immer nie, was einen erwartet, wenn man unterwegs ist, aber jedes Mal kommt man zurück mit ner Gänsehaut."
Auch Akça ist die Route ein paar Mal mit dem kleinen Bruder und den Eltern gefahren. Eine Fahrt hat er bis heute nicht vergessen:
"Eine Erinnerung war zum Beispiel, dass mich meine Eltern an ´ner Raststätte in Belgrad vergessen haben und ne dreiviertel Stunde weg waren."
"Einsteigen!"

Geschichten und Erfahrungen

Auf dieser Tour wird niemand und nichts zurückgelassen. Im Gegenteil, In jeder Station steigen neue unsichtbare Reisende zu, oder vielmehr ihre Geschichten, Erinnerungen und Erfahrungen. In Belgrad erzählt eine pensionierte Krankenschwester von einem türkischen Gastarbeiter, den sie nach einem Unfall gepflegt hat und der ihr aus Dankbarkeit jedes Jahr einen Teppich schickt.
In Sofia freut sich ein junger Dirigent über die türkisch singende Carmen:
"This evening’s event presented the problems of the people on a human level not an ideological level."
Durch die vertonte Gastarbeiterroute seien ihm die türkischen Nachbarn menschlich nahe gekommen abseits von Ideologie und Politik. Die große Politik allerdings begleitet die kleine Truppe auf ihrer Tour. Beim stundenlangen Warten an der bulgarisch-türkischen Grenze hält ein bulgarischer Militärlaster. Von der Ladefläche klettern zwei Erwachsene mit Kindern.
"Was meinste, wer da drin war? Sechsköpfige Familie. − Wo bringen die die jetzt hin?"
Eine Flüchtlingsfamilie, aufgegriffen bei ihrem Versuch, Europa zu erreichen.
Und am ersten Aufführungstag in Istanbul erschüttert die Nachricht von einem Bombenattentat in der Innenstadt die Gruppe beim Frühstück. Später beim Gespräch nach der Aufführung in einem alternativen Kulturzentrum in Kadiköy auf der asiatischen Seite empört sich ein älterer Istanbuler in perfektem Deutsch über die Politik Erdoğans. Mit einem Mal klingt der sentimentale Operetten-Evergreen am Ende der Revue gar nicht mehr so kitschig, sondern zum Weinen trotzig:
"Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück…"
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