Journalist: Al-Dschasira hat seinen guten Ruf verspielt

Aktham Suliman im Gespräch mit Dieter Kassel · 24.07.2013
Der Widerstand gegen die tendenziöse Berichterstattung des TV-Senders Al-Dschasira nimmt zu: 22 Mitarbeiter haben aus Protest gekündigt. Zuletzt wurden die "Sichtweise der Muslimbruderschaft überbetont" und kritische Stimmen einfach weggeblendet, meint der Ex-Korrespondent Aktham Suliman.
Dieter Kassel: Al-Dschasira war seit seinem Start vor über 15 Jahren der einzige nichtstaatliche Informationssender in der arabischen Welt. So schien es zumindest. Und an diesen schönen Schein haben viele Zuschauer und auch eine ganze Weile lang viele Mitarbeiter des Senders geglaubt, ein paar Jahre lang auch keineswegs zu Unrecht. Aber die Zeiten haben sich geändert, inzwischen wird der Sender nicht mehr so geschätzt, nicht nur, aber vor allem auch in Ägypten schlägt Al-Dschasira offene Ablehnung entgegen. Aus Kairo berichtet unsere Korrespondentin Cornelia Wegerhoff.

Kassel: Unsere Ägypten-Korrespondentin Cornelia Wegerhoff über die Entzauberung, wie man es wohl nennen kann, des Senders Al-Dschasira in Ägypten. Aktham Suliman war über zehn Jahre lang der Leiter des Berliner Büros von Al-Dschasira, und im Oktober des letzten Jahres hat er dann gekündigt. Eigentlich aus den gleichen Gründen, weshalb das Kollegen in Ägypten inzwischen auch gemacht haben, weil ihm nämlich die Berichterstattung seines Senders nicht mehr zusagte. Herr Suliman, erst mal schönen guten Tag!

Aktham Suliman: Guten Tag!

Kassel: Empfinden denn tatsächlich die Zuschauer in Ägypten inzwischen Al-Dschasira als Sprachrohr der Muslimbruderschaft?

Suliman: Zumindest sehr viele. Die Gegner der Muslimbruderschaft empfinden das als Stimme der Muslimbrüder, Al-Dschasira meine ich, und nicht zu Unrecht, muss man sagen, wenn man Inhaltsanalysen geht. Also im Beitrag hieß es, viele Gäste von den Muslimbrüdern, unkritisch werden sie behandelt. Die Sichtweise von der Muslimbruderschaft wird überbetont. Das alles weist darauf hin, dass Al-Dschasira in einem inländischen Konflikt Partei ergreift, und das ist immer falsch. Das war falsch, das mit den Palästinensern so was zu machen, mit den Syrern und jetzt mit den Ägyptern. Das ist natürlich dann für viele nicht mehr akzeptabel.

Al-Dschasira hat innerhalb zweier Jahre in Ägypten vieles verspielt, was am Anfang, 2011, sehr erfolgreich war. Das heißt, das war wirklich für die Leute, aus deren Wahrnehmung, die Stimme der Revolution. In der Zeit, wo die Muslimbrüder geherrscht hatten, hat man gemerkt in Ägypten, das ist die Stimme der Regierung. Weil die, die Opposition waren, die Muslimbrüder, sind ja Regierung geworden. Und Al-Dschasira betreibt regelrecht richtig Hofberichterstattung mit dem Herrn Präsidenten und allem Drum und Dran, wogegen Al-Dschasira von Anfang an eigentlich war.

Kassel: Aber ist das "nur" – "nur" in Anführungszeichen, schlimm genug – gefärbt, Meinungsmache, oder würden Sie sagen, da gibt es Sachen, das geht wirklich schon in Richtung Manipulation?

Suliman: Es gibt Manipulationen auch. Muss man leider sagen, es gibt Manipulation – aber wo fangen Manipulationen im Fernsehen, in den Nachrichten an? Die fangen schon an, wenn man die halbe Wahrheit wegblendet. Die fangen schon an, wenn man Gäste überbetont. Die Manipulation fängt für mich schon an am 30. Juni. Über 20 Millionen Ägypter auf der Straße in ganz Ägypten. Alle Weltsender zeigen das live, und Al-Dschasira strahlt ein Programm über Syrien. Das ist Manipulation, nicht im klassischen Sinne, keiner kann behaupten, diese Sendung war über ein Land, was es nicht gibt, in Syrien gibt es Probleme, das wissen wir - aber Ägypten wegblenden in so einem Moment, das ist Manipulation.

Der Anruf von Herrn Mursi nach der Befreiung aus seinem Gefängnis im Jahre 2011 war nicht zufällig. Der Gefangene kommt nicht aus dem Gefängnis und hat zufällig Al-Dschasiras Telefonnummer dabei und ruft genau dieses Live-Studio an. Natürlich gibt es Mittelsleute, die das organisiert haben. Und hier fängt die Überlegung bei vielen Mitarbeitern, vielen Zuschauern, an: Betreiben wir eigentlich noch Journalismus oder sind wir eigentlich schon gestorben als Journalisten?

Kassel: Hat denn Al-Dschasira in Ägypten, aber vielleicht sogar darüber hinaus tatsächlich jetzt wirklich nicht mehr den Ruf, eine seriöse Nachrichtenquelle zu sein?

Suliman: Das ist jetzt wirklich sehr untertrieben. Nicht nur nicht seriös, das ist in Ägypten, Al-Dschasira steht momentan synonym für das Wort Skandal. Skandal, weil Sachen wegblenden, das geht auf dem Bildschirm. Die Bewohner des Landes sehen das auf der Straße. Das ist genau, was das staatliche ägyptische Fernsehen gemacht hatte 2011 unter Mubarak, als die Leute auf dem Tahrir-Platz waren. Die haben einfach die Leute weggeblendet. Es hat nichts genutzt, weil die Leute waren auf der Straße. Das genau versucht Al-Dschasira, mal, die Leute jetzt, die gegen Mursi aufgestanden sind, wegzublenden, mal das Ganze leichtsinnig einfach Militärputsch ohne Kommentar zu nennen oder zu erklären, warum das so sein sollte. Und wenn sie auch diesen Bildschirm in zwei Teile teilen und zeigen, hier sind die Pro-Mursi- und da sind die Anti-Mursi-Leute – ja, ja, das ist schön und gut, sehr ausgewogen. Nur: Wie viele Leute sind da und wie viele sind hier?

Eine ägyptische Aktivistin wurde bei Al-Dschasira interviewt neulich während der Ereignisse jetzt auf dem Tahrir-Platz, angeblich Al-Dschasira natürlich ausgewogen und redet auch mit den Leuten auf dem Tahrir-Platz, und dann hat der Moderator ihr gesagt, ja, ja, aber Sie wissen schon, es gibt Sie, Sie sind Anti-Mursi und so weiter, aber es gibt auch die anderen, die Pro-Mursi, also, das Volk ist gespalten. Und dann sagte sie, und warum betreiben Sie solche Fragen nicht im Falle Syrien? Entschuldigung, die Leitung ist unterbrochen. Das auf Al-Dschasira, eine Leitung unterbrechen, weil eine kritische Frage von einem Gast kam, das wäre nicht in unseren kühnsten Träumen möglich.

Kassel: Aber das, Herr Suliman, ist doch vielleicht die entscheidende Frage. Wir sind uns doch, glaube ich, einig, es gab im Großen und Ganzen drei Phasen, wenn man auch so die Weltsicht auf Al-Dschasira sieht. Die ganz frühe – nein, es war nicht die ganz frühe, den Sender gab es vorher, aber als er nach 9/11 sehr bekannt wurde weltweit wegen der vielen Videobotschaften, galt er als die Stimme Osama bin Ladens. Dann gab es die mittlere Phase, würde ich mal sagen, wo auch im Westen viele sagten, das ist ein seriöses journalistisches Medium, wir sind froh, dass es so was jetzt gibt in der arabischen Welt. Jetzt sind wir in der dritten Phase, da ist diese vorbei, aber was ist denn da passiert? Das ist immer noch der Emir von Katar, dem der Sender gehört – was hat sich denn jetzt verändert?

Suliman: Das haben Sie richtig bemerkt. Der Emir von Katar ist derjenige oder die Herrschaftsfamilie in Katar bestimmt das Ganze. Und diese Herrschaftsfamilie hat natürlich Launen, hat Phasen, hat internationale Verflechtungen. Sie haben die drei Phasen richtig bemerkt, aber die drei Phasen gelten für die Medien, für die Öffentlichkeit, so haben die anderen Medien die Öffentlichkeit wahrgenommen. Ich glaube, dass Regierungen das nicht unbedingt immer so gesehen haben. Al-Dschasira gehörte immer der Führung in Katar. Die Führung in Katar war immer sehr West-nah, zu nah einfach, Militärbasis der Amerikaner dort. Und über die ganze Linie hat man sich nicht wirklich gegen die Politik von bestimmten Großmächten gestellt, sondern man hat versucht, die Stimmung zu nutzen.

Also in der Zeit, wo Al-Dschasira angeblich gegen den Irakkrieg Beiträge und Kommentare ausstrahlte, in dem Moment flogen Flugzeuge oder hoben Flugzeuge ab von dem Flughafen in der Nähe und haben den Irak bombardiert. Das war ein Balanceakt, und dieser Balanceakt hat in der zweiten Phase, die Sie beschrieben hatten, sehr gut funktioniert und hat den Eindruck erweckt, als ob Al-Dschasira nur noch ein Profisender war. Und das mit bin Laden war gar nicht, das war wirklich nicht - mit bin Laden war das ein Witz, das ist kein Sender von bin Laden gewesen, muss ich auch als Mitarbeiter auch im Nachhinein feststellen. Das ist nicht der Punkt, aber es gab diese Bin-Laden-Hysterie im Westen, Al-Dschasira hat das ausgestrahlt, das Bild kam dann so rüber und herrschte. Aber in dieser zweiten Phase hat man diesen Balanceakt hingekriegt.

Genau da, wo radikale Ereignisse dann stattfanden, und mit radikal meine ich nicht nur Kriege und so weiter, sondern vor allem Bürgerkriege. Wenn jetzt in ein und dem gleichen Land zwei Meinungen herrschen, in Palästina, Kampf zwischen Fatah und Hamas, in Syrien Pro-Regierung, Anti-Regierung; in Ägypten Pro-Mursi, Anti-Mursi – in solchen Situationen versagt Al-Dschasira, weil ein Medium in diesen Momenten braucht nicht den allgemeinen Geschmack, den gibt es ja gar nicht mehr in dem Moment, sondern braucht wirklich die journalistischen Grundsätze, die einen retten in dem Moment. Wie reagiere ich als Journalist, wenn der eine auf der anderen steht und sagt, der hat mir was angetan? Da helfen nicht Emotionen, da helfen nicht jetzt Parteinahmen, da helfen nur Grundsätze des Journalismus, wie man distanziert das beschreibt, die Quellen nennt, sich nicht identifiziert mit der einen oder anderen Seite, und genau das gab es ja nicht. Und in dem Moment, wo diese Großereignisse, publizierte Ereignisse stattfanden, wurde Al-Dschasira praktisch ausgezogen.

Kassel: Eine kurze Frage noch zum Schluss: Gibt es denn irgendwelche Alternativen aus der arabischen Welt? Man kennt ja vom Namen her auch Sender wie Al-Arabiya aus Dubai oder auch Abu-Dhabi-TV, die sind im Prinzip, auch technisch gesehen, arabienweit zu empfangen. Sind das Alternativen zu Al-Dschasira?

Suliman: Ich glaube nicht. Die Krankheit ist wirklich allgemeingültig, betrifft viele Sender. Wir sind alle abhängig, egal Al-Dschasira, Al-Arabiya und die anderen, von dem Geldgeber. Uns fehlen die Mediengesetze, uns fehlen die Verfassungen, die das wirklich grundsätzlich organisieren. Uns fehlen die ökonomischen Bedingungen. Wie soll ein Sender sich finanzieren jenseits Emir und König und Regierung und Staat und so weiter. Und so lange das der Fall ist, werden wir abhängig sein. Ich sage aber, die Alternative ist wirklich, das alles zu beobachten und nicht bei einem Sender hängen zu bleiben. Dann hat man ein weitgefächerteres Bild, als wenn man jetzt bei einem Sender bleibt wie Al-Dschasira früher.

Kassel: Das ist aber, glaube ich, in anderen Weltregionen auch ein guter Tipp, was Sie jetzt zum Schluss gesagt haben. Aktham Suliman war das, er war gut zehn Jahre lang Leiter des Berliner Büros von Al-Dschasira, hat im letzten Jahr gesagt, ich will das nicht mehr, wegen der Berichterstattung des Senders. Und mit ihm haben wir über die Entwicklung vor allen Dingen, aber nicht nur, von Al-Dschasira in Ägypten gesprochen. Herr Suliman, sehr vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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