Jazz

"Er war wie ein Diktator"

Cover des Re-Issue-Albums "Jazz in Silhouette" und "Sound Sun" von Sun Ra Arkestra
Cover des Re-Issue-Albums "Jazz in Silhouette" und "Sound Sun" von Sun Ra Arkestra © Gambit Records
Moderation: Frank Meyer · 22.05.2014
Genie oder Scharlatan? Vor 100 Jahren wurde der Jazzmusiker und Mystiker Sun Ra geboren. Wir sprechen mit dem Schriftsteller Hartmut Geerken über Sun Ras revolutionäre Musik, ein unglaubliches Wohnzimmerkonzert in Ägypten und seine diktatorischen Allüren.
Frank Meyer: "Space is the place!", das war der Wahlspruch des Jazzmusikers und Mystikers und Futuristen Sun Ra. "Ich komme vom Saturn", hat Sun Ra behauptet. Was bei ihm so abgespaced klingt, das hatte ganz reale Seiten, zum Beispiel die Idee, für die Afroamerikaner seiner Zeit könnte der freie Space ein angenehmerer Ort sein als die rassistische Erde. Heute vor hundert Jahren wurde Sun Ra geboren. Wir reden gleich über dieses Wahnsinnsgenie. Vorher führt Sie Ralf bei der Kellen ein in die Welt von Sun Ra.
In München ist jetzt der Musiker und Schriftsteller Hartmut Geerken für uns im Studio. Er hat mehrere Bücher über Sun Ra und mit der Lyrik und Prosa von Sun Ra veröffentlicht. Er hat mit Sun Ra selbst einiges erlebt. Seien Sie herzlich willkommen, Herr Geerken!
Hartmut Geerken: Ja, vielen Dank!
Meyer: Wie hat denn Ihre eigene Geschichte mit Sun Ra angefangen? Was hat Sie da fasziniert an ihm? Die Musik, die Mystik, beides?
Geerken: Da müssen wir etwas weiter zurückgehen. Es war Ende der 50er-Jahre, da war ich 18 oder 19 Jahre alt. Und ich hatte neben meinem Bett einen Detektor. Ich weiß nicht, ob man das heute noch weiß, was das war –
Meyer: So eine Art Radio.
Geerken: Ein Kristallradio, auf dem man einen Sender empfangen konnte. Und da konnte ich nur den Südwestfunk empfangen, und ich habe mit großem Interesse und regelmäßig die Jazzsendungen von Joachim Ernst Behrendt im Südwestfunk verfolgt. Und aus dieser Zeit, wo ich noch ein junger Mann war, erinnere ich mich an zwei Sendungen. Die eine war über Billie Holiday, die Übertragung eines Konzerts in Deutschland. Und die zweite war eine Sendung über Sun Ra, und das ist sehr erstaunlich, denn zu dieser Zeit hatte Sun Ra erst eine Langspielplatte und zwei Singles veröffentlicht.
Meyer: Das heißt, da war der deutsche Rundfunk ganz vorne mit dabei?
Geerken: Ja, ja. Joachim Ernst Behrendt hat Sun Ra eigentlich zusammen mit einem Engländer, mit Victor Schoenfield, in Europa eigentlich bekannt gemacht, und zwar in größeren Kreisen. In Amerika hatte er eine kleine Fangemeinde zu der Zeit, aber nach seiner ersten Europatournee 1970 und dann 1971 war er in Europa sehr bekannt und geschätzt.
Meyer: Und was hat Sie an der Musik fasziniert?
Ein spontaner Besuch in Ägypten
Geerken: Mich hat eigentlich an der Musik gar nichts fasziniert, denn daran erinnere ich mich nicht. Ich erinnere mich nur, dass Behrendt damals gesagt hat, es sei ein Musiker, an dem sich der Geist der Kritiker scheidet. Die einen sagen, das sei ein Scharlatan, und die anderen sagten, er sei ein Genie, und er sei der kommende Mann im Jazz. Und das hat sich bei mir im Gehirn irgendwie eingehakt. Und dann kam, als ich 1966 nach Kairo versetzt wurde als Dozent des Goethe-Instituts, das alles wieder hoch, was ich da als 18-, 19-Jähriger gehört hatte.
Und ich schaffte mir dann alles an, was man auf dem Markt von Sun Ra kaufen konnte. Und während meiner sechs Jahre, die ich dort gelebt habe, kam mal ein "Spiegel" heraus, das war 1970, und der "Spiegel" brachte eine jämmerlich schlechte Besprechung von Sun Ras Europatournee, und am Schluss des Artikels stand dann der Satz, der größte Wunsch Sun Ras sei es, einmal angesichts der Sphinx in Ägypten spielen zu können. Und das war der Anlass, dieser Artikel. Ich habe mich spontan hingesetzt und habe Sun Ra einen Brief geschrieben mit dem Satz, er könne jetzt nach Ägypten kommen, und ich sei da.
Meyer: Sie haben ihn eingeladen nach Ägypten?
Geerken: Ich habe ihn eingeladen, ja.
Meyer: Und er ist tatsächlich gekommen?
Geerken: Er ist tatsächlich gekommen. Er war dann 1971 wieder auf einer größeren Europatournee, und nach dem letzten Konzert in Kopenhagen hat er einfach spontan den Rückweg in die USA über Kairo genommen und kam in Kairo an.
Meyer: Wir werden gleich mal ein Stück seiner, wie Sie sagen, so revolutionären Musik hören, nämlich das Stück "Friendly Galaxy Number Two". Das wurde aufgenommen an einem ganz besonderen Ort, nämlich bei Ihnen zu Hause, in Ihrem Haus in Ägypten, in Heliopolis. Wie kam es denn dazu, dass dieses ganze Arkestra von Sun Ra bei Ihnen zu Hause spielte?
Geerken: Das kam so zustande, dass wir mal im Manor House Hotel, das ist gegenüber der großen Cheops-Pyramide, da saßen wir beim Frühstück zusammen, und er fragte mich, wo kann man denn hier in Kairo auftreten, wo kann man spielen? Und das ist natürlich so kurzfristig nicht möglich, das braucht lange Anlaufzeiten in Ägypten, und ich habe ihm vorgeschlagen, ob er nicht bei mir zu Hause spielen will. Da war er sofort einverstanden und sagte, wir kommen morgen! Tatsächlich, am nächsten Tag fand das statt. Ich habe dann an dem Tag noch das ganze Haus ausgeräumt, das Wohnzimmer, habe jemanden beauftragt, der die Telefoneinladungen macht an die Gäste, an reiche Ausländer – jeder musste hundert Dollar bezahlen –
Meyer: Oh je.
Geerken: Ja. Und dann war das ein unglaubliches Konzert.
Meyer: Und "wir kommen" heißt – wie viele kamen da, wie groß war die Band damals?
Geerken: Die Band hatte etwa 25 Leute, Musiker und Tänzer.
Meyer: Also ich verstehe, Sie hatten ein großes Wohnzimmer damals ...
Geerken: Das war ein großes Wohnzimmer, ja. Es war ein sehr großes Wohnzimmer, 25 Musiker und 25 Gäste waren da drin.
Meyer: Herr Geerken, dann hören wir mal dieses Stück aus Ihrem Haus, "Friendly Galaxy Number Two" von Sun Ra und seinem Arkestra.
(...)
Meyer: Der Jazzmusiker Sun Ra und sein Arkestra mit dem Stück "Friendly Galaxy Number Two", eine Aufnahme aus dem Jahr 1971 aus dem Haus von Hartmut Geerken im ägyptischen Heliopolis. Heute vor hundert Jahren wurde Sun Ra geboren. Herr Geerken, als diese Musik damals in Ihrem Haus gespielt wurde – es gibt Berichte darüber, dass eine junge Frau rausgerannt ist, um sich in den Nil zu werfen, danach. Wie hat das denn überhaupt auf die Besucher dieses Konzerts gewirkt, diese Musik?
Eine Konzert-Besucherin wollte in den Nil springen
Geerken: Das fand nicht in meinem Haus statt, sondern in einem Nachtclub, im Nachtclub "Versailles" in Kairo. Da lief eine Frau raus und wollte sich in den Nil stürzen. Sun Ra hat mir das immer mit großem Gelächter erzählt, denn das war eine Sache, wo er sich sagte, da wirkt meine Musik so, wie ich das will.
Meyer: Ein interessanter Wunsch eines Musikers, die Zuhörer mögen sich danach in den Fluss werfen ...
Geerken: In den Nil werfen, ja. Bei der Aufnahme hörte man natürlich auch ganz deutlich mein verstimmtes Klavier, das ich zu Hause hatte. Ich hatte keine Zeit mehr, das Klavier stimmen zu lassen für das Konzert. Und eine zweite Sache kam noch dazu: Die meisten Instrumente des Arkestras waren noch unter Zollverschluss in Kairo. Und ich habe dann die ganzen Instrumente für dieses Konzert vom ägyptischen Militär ausgeborgt.
Meyer: Ein ungewöhnlicher Leihgeber.
Geerken: Ja. Der oberste Befehlshaber der ägyptischen Militärmusik war ein guter Freund von mir. Das war der Jazzschlagzeuger Salah Ragab, und der machte das möglich.
Meyer: Interessante Verbindungen, die Sie da hatten in Ägypten. Und diese Reise von Sun Ra nach Ägypten, die muss ja für diesen Musiker, der sich so auf Ägypten berufen hat, der sich nach dem ägyptischen Sonnengott Ra benannt hat, das muss ja für ihn etwas ganz Besonderes gewesen sein. Wie hat er diese Reise dann erlebt?
Geerken: Er hat, als er vor meinem Haus aus dem Taxi ausgestiegen ist, hat er mich gefragt: Sind wir hier wirklich in Heliopolis? Heliopolis heißt ja die "Stadt der Sonne", und dieser Ort – das ist ein Vorort von Kairo oder ein Teil von Kairo –, der war früher der Verehrungsort des pharaonischen Gottes Ra. Dort, an diesem Platz, hat Sun Ra sein erstes Konzert gespielt. Und er hat in späteren Interviews noch nach Jahrzehnten immer wieder betont, dass dieses Konzert für ihn ganz, ganz wichtig war.
Meyer: Er soll auch einmal in eine Pyramide gegangen sein oder geklettert sein?
Geerken: Da habe ich ihn geführt, wir sind zusammen in die Pyramide gegangen noch mit John Gilmore und Marshall Allen und noch mal zwei aus dem Arkestra. Und wir sind da mühsam hineingeklettert, das ist ja nicht so einfach gewesen damals, den hohen Korridor in der Pyramide hochgeklettert, und dann standen wir in der Königskammer, und wir standen noch nicht lange da, da fiel das Licht aus. Und wir standen also von Millionen Tonnen Steinen umgeben in völliger Dunkelheit da. Das erste, was Sun Ra sagte, ist doch okay, wozu brauchen wir Licht, ich bin doch hier.
Meyer: Und ich bin die Sonne?
Geerken: Die Sonne Ra, ja.
Meyer: Aber geleuchtet hat er nicht?
Geerken: Nein, geleuchtet hat er nicht.
Meyer: Und wie wir aus unserem Gespräch entnehmen können, haben Sie auch den Weg wieder raus gefunden aus der Pyramide?
Geerken: Wir haben raus gefunden. Da war ein Wächter dabei, und der hatte eine Kerze dabei. Und dann gingen wir im Kerzenlicht wieder zurück.
Meyer: Solche Gurus, solche Propheten wie Sun Ra, die haben ja öfter auch eine bedenkliche Seite, wenn sie so als Führer oder Diktatoren über ihre Anhänger herrschen. Wir haben vorhin schon in unserer Einleitung gehört, dass Sun Ra auch solche Züge wohl hatte. Wie haben Sie das denn erlebt, ihn uns sein Orchester – war er da so was wie ein Diktator?
Sun Ra hat über seine Musiker geradezu verfügt
Geerken: Der war wie ein Diktator, ja, ja. Ganz strikt. Und er hat ja seine Musiker dann in Philadelphia in einem Haus versammelt, und die wohnten dort auch. Man könnte fast sagen, es war wie eine Kommune, und Sun Ra hat über diese Leute verfügt. Zu jeder Tages- und Nachtzeit konnte er sie aus den Betten holen zur Probe. Wenn er eine Idee hatte, konnte er sofort mit dem Orchester proben. Und das ist natürlich auch eine einmalige Situation. Aber es war für viele seiner Musiker – es gingen ja Hunderte von Musikern durch das Arkestra hindurch, und für viele von diesen Musikern war es natürlich wichtig oder war es eine tolle Sache, ein Dach über dem Kopf zu haben und jeden Tag etwas zu essen zu haben.
Meyer: Und war er ihnen als Mensch angenehm?
Geerken: Er war sehr angenehm als Mensch, ja. Sun Ra hat unglaublich viel Humor gehabt. Er konnte also wirklich lauthals lachen über irgendwelche Späße und Witze.
Meyer: Vorhin haben Sie gesagt, Herr Geerken, man sollte vor allem über die Musik von Sun Ra reden und über das Revolutionäre an dieser Musik. Können Sie das beschreiben – was ist denn für Sie das Revolutionäre an seiner Musik?
Geerken: Dass er die Gesetze der abendländischen Musik einfach gebrochen hat. Er ging über diese Gesetze, die man uns vorschreibt in der Musik, einfach hinaus. Und er war wahrscheinlich einer der ganz wenigen, wenn nicht der einzige, der so gedacht hat. Er hat zum Beispiel zwei Kompositionen von sich übereinander gelegt und hat die gleichzeitig gespielt. Ein Teil des Orchesters spielte das eine Stück, und der andere Teil des Orchesters spielte das andere Stück. Simultan. Das hat niemand gemacht außer später John Cage vielleicht. Mit dem er ja auch eine Platte gemacht hat, mit John Cage.
Meyer: Es soll auch bis heute immer wieder Musiker geben, die sich auf Sun Ra, auf seine Musik, auch auf seine Ausstrahlung, seine Ideen berufen. Bei wem ist Ihnen das aufgefallen, bei anderen Musikern?
Geerken: Vor allem natürlich bei Afroamerikanern. Ich habe viel Kontakt mit Afroamerikanern, und ich habe noch nicht einen einzigen getroffen, der die Person Sun Ra nicht verehrt hätte. Nicht so sehr die Musik oder das Drumherum, sondern die Gestalt. Wie er plötzlich durch sein Erlebnis bei der Militärverweigerung – diese Verweigerung, eine Waffe in die Hand zu nehmen und dann ins Gefängnis zu kommen dafür, das war für ihn der Bruch in seiner Existenz. Das hat er nie vergessen. Und er hat dann danach seinen Namen geändert von Herman Poole Blount zu Le Sony'r Ra, Sun Ra. Er fühlte sich nicht mehr als Nachkomme eines Sklaven, sondern er war plötzlich ein König oder sogar ein Gott – Sun Ra war ja ein Gott.
Meyer: Herr Geerken, der hundertste Geburtstag von Sun Ra ist der Anlass für unser Gespräch. Wie werden Sie denn diesen Geburtstag begehen?
Geerken: Wir werden heute Abend das Konzert anhören, und dann werden wir wahrscheinlich feiern. Aber es wurde nichts organisiert dafür. Es wird sich spontan etwas ergeben wie in allen Ritualen, die Sun Ra auf der Bühne macht, da ergeben sich auch immer neue Dinge, die kein Mensch vorher erwartet.
Meyer: Hartmut Geerken, besten Dank für dieses Gespräch über Sun Ra. Sein Arkestra ist gerade auf Tour unter der Leitung des Sun-Ra-Mitstreiters Marshall Allen. Heute Abend spielt Sun Ras Arkestra in Zürich, morgen dann im deutschen Weinheim, und in den nächsten Tagen in Kassel, Berlin, Moers und Regensburg.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.