Hilfe, ich werde reaktionär!

Von Reinhard Mohr · 18.07.2012
Der Publizist Reinhard Mohr hat sich selbst immer als links empfunden. Heute aber stellt er voller Entsetzen bei sich reaktionäre Tendenzen fest - nicht über Nacht, sondern schleichend.
Ein Samstagnachmittag an der Berliner Friedrichstraße. Ein Bataillon orangefarbener Fahrzeuge – Slogan: "We kehr for you" – räumt den müllübersäten Asphalt mit schwerem Gerät. Dichte Staubwolken, umherwirbelnde Dreckhaufen, ein zehn Zentimeter hohes Meer aus zerborstenen Bierflaschen - ein übelriechendes, klirrendes Inferno.

Eigentlich müssten Gesichtsschutz und Atemmasken ausgegeben werden. Die Passanten kämpfen sich irgendwie durch, und aus reiner Neugier stellt man sich die Frage: Was war hier eigentlich los? Ein Straßenfest der "Hells Angels"? Eine Müll-Performance von "Foodwatch"? Ein aus dem Ruder gelaufener "Cuba-si!"-Aufmarsch der "Linken"?

Die Antwort kommt von einem uniformierten Vertreter der Sicherheitskräfte. Vorwurfsvoll, beinah verächtlich angesichts meiner peinlichen Unbildung stößt der Mann hervor: "Det war die Fuckparade! Det kennse nich??!" Ich schämte mich. Und dann kam sie doch wieder, die Erinnerung an die jährlichen Umzüge von Punkern, Anarchos und anderen Freizeit-Revolutionären unter dem bierseligen Motto "Fuck off Deutschland! Fuck you all!"

Auf dem Weg nach Hause kroch dann unvermittelt der Gedanke in mir hoch: Wer zahlt eigentlich die Reinigungskosten für diese ausufernde Privatparty? Der Fuck-off-Staat? Die Steuerzahler? Der Euro-Rettungsschirm EFSF? Und da, ganz plötzlich, schoss mir ein zweiter böser Gedanke durch den Kopf: Hilfe, ich werde reaktionär!

Wie kann ich auch nur eine Sekunde auf die Idee kommen, dass die fortschrittlichen jungen Menschen nach der erfolgreichen Ausübung ihres Grundrechts auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit einen Beitrag zur Beseitigung ihres eigenen Drecks leisten sollten? Geht’s noch?! Ausgerechnet ich, der vor Jahren noch selbst auf unzähligen Demonstrationen war! Und ganz ehrlich: Auch wir hatten damals keine Besen dabei. Liegt der Unterschied also nur darin, dass wir die Bierflasche erst nach der Straßenschlacht aufmachten und nicht, wie heute üblich, schon davor? Kurz: Bin ich einfach nur ein alter Sack, der der Jugend ihren Spaß nicht gönnt? Aber es kommt noch dicker.

"Wem gehören die Hunde hier?" schrie ich jüngst am Lietzensee, und blitzschnell wurde mir gewahr: Ich klang wie mein Vater vor vierzig Jahren, Bewunderer von Franz Josef Strauß. Gewiss, die Kampfköter waren nicht angeleint, während in der Nähe Kinder herumliefen. Aber ich hätte trotzdem toleranter sein können im Sinne des Berliner Landrechts: Mir doch egal, sind ja nicht meine Kinder!

Das Erschreckendste: Meine autoritären Tendenzen weiten sich ständig aus.

Ich empfinde Graffiti an Hauswänden und S-Bahnwagen nicht mehr durchgehend als Kunst, verteidige die Schulmedizin gegen Globoli und Feng-Shui, schätze freundliche Umgangsformen und bitte schon mal den Nachbarn, das Radio leiser zu stellen. Als überzeugter Europäer bin ich ein Euro-Skeptiker geworden, der Griechenland und Portugal, Spanien und Italien nicht nur für Opfer exzessiver Finanzmärkte hält, und finde die konsequente Verfolgung von Neonazis durch die Polizei wichtiger als Lichterketten und Mahnwachen.

Immer öfter ertappe ich mich dabei, dass ich über grammatikalische oder orthografische Fehler auch in seriösen Medien den weißgrauen Kopf schüttele. Wenigstens schreibe ich noch keine seitenlangen Leserbriefe zum korrekten Gebrauch des Genitivs. Mich verwundert die allgemeine Begeisterung über die "Piraten-Partei" und den angeblich frischen Wind, den die kleinen Racker mit angewachsenem Laptop in die Politik bringen. Ich rieche vor allem den Muff spätpubertierender Jungmänner, die es noch schwer haben werden, ihre postinfantile Internet-Fixierung abzulegen.

Am unheimlichsten aber ist die Wahrheit: Ich bin gar nicht reaktionär. Es ist die irre Wirklichkeit, die mich auf all die komischen Gedanken bringt. Frei nach Bertolt Brecht: Was sind das für Zeiten, in denen alte Linke den CDU-Politiker Wolfgang Bosbach gut finden? Ob dagegen Globoli doch helfen?


Reinhard Mohr, geboren 1955, ist freier Journalist. Zuvor schrieb er für "Spiegel Online" und war langjähriger Kulturredakteur des "Spiegel". Weitere journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Buchveröffentlichungen u. a.: "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z", "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern" und "Meide deinen Nächsten. Beobachtungen eines Stadtneurotikers".
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Reinhard Mohr© dpa / picture alliance / Karlheinz Schindler