Gewaltprävention

Mehr Gehör für die Abgehängten

Schaulustige und Journalisten stehen am 20.12.2016 in Berlin vor einem beschädigten LKW. Bei einem möglichen Anschlag war ein Unbekannter am Montag (19.12.) mit einem Lastwagen auf einen Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gefahren.
Menschentraube vor dem Lkw, mit dem der Anschlag in Berlin verübt wurde - wir müssen uns darauf gefasst machen, dass es woanders wieder passiert © dpa/ picture alliance / Michael Kappeler
Ulrich Wagner im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 21.12.2016
Erst Nizza, jetzt Berlin: Der Lkw ist zur fürchterlichen Waffe geworden. Wird es Nachahmungstäter geben? Der Sozialpsychologe Ulrich Wagner sieht konkrete Gefahren – und fordert, dass wir uns um die kümmern, die sich abgehängt fühlen.
Für einen Terroristen ist das wohl der maximale Erfolg: Viele Tote, noch mehr Verletzte, Angst und Schrecken. Die Waffe war in Berlin die gleiche wie in Nizza: ein Lkw. Jetzt wird über Betonpoller nachgedacht.
Können wir sonst noch etwas tun? Ja, sagt der Sozialpsychologe Ulrich Wagner von der Universität Marburg.
Seiner Ansicht nach besteht die Gefahr, dass es Nachahmungstäter geben wird. Denn die "Vorbilder" Berlin und Nizza seien durch die Medien weit verbreitet worden.
Man müsse aber bereits in einer bestimmten Lebenslage sein, um sich für die Nachahmung solcher Taten zu interessieren, sagte Wagner im Deutschlandradio Kultur.

Die Gründe für Benachteiligungen bekämpfen

Über Amokläufer und Terroristen wisse man vor allem zweierlei, betonte Wagner: Sie seien häufig in Lebenskrisen. Und fühlten sich zugleich massiv ungerecht behandelt. Diese Kombination mache dann anfällig dafür, der Krise "mit Gewalt Ausdruck zu verleihen".
Laut Wagner können wir hier präventiv tätig werden. Und müssen die, die sich abgehängt fühlten, erreichen. Denn die seien vor allem für Propaganda empfänglich.
"Wir müssen in unserer Gesellschaft alles tun, um Gründen für solche Gefühle der Benachteiligung entgegenzuwirken. Und das ist nicht eine Frage von besonderem Mitleid mit den Benachteiligten, sondern eine Frage von Prävention und damit von Verhinderung von Gewalt." (ahe)

Korbinian Frenzel: Betonpoller sollen helfen, Barrieren vor Weihnachtsmärkten in Berlin, die jetzt aufgestellt wurden und noch werden und die das verhindern sollen, was am Montagabend am Breitscheidplatz im Zentrum der Hauptstadt passiert ist: Die ungebremste Fahrt eines großen Fahrzeugs in eine Menschenmenge. Es gibt offenbar die Sorge, dass das, was mit dem schweren Anschlag von Nizza im Sommer zum ersten Mal in Europa passiert ist, jetzt in Berlin zum zweiten Mal, dass das also auch ein drittes Mal passieren kann. Wie groß ist die Gefahr durch mögliche Nachahmer? Im Gespräch dazu jetzt Ulrich Wagner, Sozialpsychologe an der Uni Marburg. Guten Morgen, ich grüße Sie!
Ulrich Wagner: Guten Morgen!
Frenzel: Der Lkw als tödliche Waffe, ist das ein neues Muster, mit dem wir rechnen müssen, mit dem wir wieder rechnen müssen?
Wagner: Zumindest besteht die Gefahr, dass diese beiden Vorbilder, die wir jetzt haben, Nachahmungstäter auf die Idee gebracht hat, dass man solche Methoden einsetzen kann, um Gewalttaten umzusetzen.
Frenzel: Nachahmungstäter – da ist ja viel notwendig, bevor man aus einer Idee wirklich dann auch eine Tat macht. Was ist denn die Voraussetzung dafür, dass man diese Botschaft erstens empfangen kann, empfänglich dafür ist, und dass man dann auch wirklich in Versuchung geführt wird, sie auszuführen?
Wagner: Wir sind als Menschen eben in der Lage, durch die Beobachtung des Verhaltens anderer Menschen bestimmte Verhaltensweisen zu lernen und sie auch umzusetzen, und das ist die Gefahr, die gerade jetzt durch diese Vorbilder, die eben auch durch die Medien weit verbreitet werden, dass solche Nachahmungstäter dasselbe tun wie das, was sie gesehen haben. Aber Sie haben natürlich völlig recht: Die wenigsten kommen auf die Idee, so etwas zu tun, die meisten sind ja eher abgeschreckt, verängstigt und angewidert von dem, was da passiert. Man muss also eine bestimmte Interessenslage bereits mitbringen, sodass man sich für die Nachahmung solcher Taten überhaupt interessiert. Und wir wissen einiges darüber, warum Menschen zu Amokläufern oder zu Terroristen werden. Häufig sind es Lebenskrisen, die die Menschen erleben, oder auch hohe, massive Gefühle von Ungerechtigkeit, die ihnen oder Gruppen, denen sie sich zurechnen, die sie glauben, dass diese Gruppen erfahren. Und diese Kombination, Krise/Ungerechtigkeitsgefühle macht anfällig dafür, dieser Krise mit Gewalt Ausdruck zu verleihen. Und wenn ich dann ein Vorbild bekomme, wie wir das in Berlin gesehen haben, dann können Menschen auf diesen Zug aufspringen.
Frenzel: Interessenlage – Sie haben das Wort gerade gebraucht – gibt es denn Gruppen in unserer Gesellschaft, die besonders empfänglich dafür sind, kann man das so pauschal sagen? Ich stelle diese Frage vor dem Hintergrund der politischen Diskussionen, die ja jetzt auch stattfinden und die gleich Flüchtlinge in den Blick nehmen, junge Flüchtlinge. Gibt es da einen Zusammenhang, oder ist das eher politische Propaganda, die wir da gerade erleben?
Wagner: Grundsätzlich ist es so, dass diejenigen, die sich abgehängt fühlen – und hier liegt die Betonung tatsächlich auf dem Gefühl, das muss nicht objektiv so gegeben sein –, dass Menschen, die sich abgehängt fühlen, empfänglich sind für alle möglichen Formen von Propaganda, die ihnen ihren Zustand erklärt, die sie darin unterstützt, dass sie wirklich angeblich abgehängt sind und die ihnen Möglichkeiten aufzeigen, dagegen was zu machen. Also jede Form politischer terroristischer Propaganda fällt bei solchen Menschen auf fruchtbaren Boden. Und dann können wir uns fragen, wenn das so ist, dass das Gefühl, abgehängt zu sein, eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, solche terroristische Botschaften anzunehmen, dann müssen wir uns in unserer Gesellschaft umschauen, wer könnte das sein. Es sind nicht nur Menschen mit Fluchthintergrund, aber auch, bei Menschen, die nach Deutschland gekommen sind mit großen Hoffnungen, die jetzt vielleicht erkennen, dass sich diese Hoffnungen nicht einfach umsetzen lassen, die vielleicht schon ein Jahr oder noch länger auf ihre Erstregistrierung warten, all das sind Faktoren, die dazu beitragen, dass man empfänglich für solche terroristische Botschaften und die Umsetzung solcher terroristischer Botschaften wird. Das heißt aber auch, wenn wir das wissen, dass man an dieser Stelle auch präventiv eingreifen kann, das heißt, wir müssen in unserer Gesellschaft alles tun, um Gründen für solche Gefühle der Benachteiligung entgegenzuwirken. Und das ist nicht eine Frage von besonderem Mitleid mit Benachteiligten, sondern eine Frage von Prävention und damit von Verhinderung von Gewalt.
Frenzel: Bei der Frage nach dem, was wir tun können, noch mal eine Frage zu der Rolle der Medien. Sie haben es angesprochen: Wir haben eine unglaublich gute Dokumentation dessen, was passiert, durch soziale Medien, aber auch durch die klassischen Medien, die minutiös darstellen, was passiert ist, in Nizza schon damals, jetzt in Berlin. Was ist denn da der beste Weg? Sollten wir vielleicht die Berichterstattung zumindest in den Details lassen?
Wagner: Sie sind ja als Medien in einer offenen Gesellschaft in einem Dilemma. Wenn Sie die Berichterstattung zu stark einschränken, dann gibt es zu Recht Protest dagegen, weil Sie eben Informationen unterdrücken. Auf der anderen Seite, schildern Sie zu stark im Detail, rufen Sie Nachahmungstäter ins Feld. Ich glaube, Sie müssen als Medien da einen vernünftigen Kompromiss finden.
Frenzel: Wie kann der aussehen?
Wagner: Wir neigen zum Beispiel dazu, besonders dann Taten nachzuahmen, wenn diese Taten scheinbar zum Erfolg führen. Wenn man also in der Medienberichterstattung sieht, in welcher Weise etwa eine solche Attacke mit dem Lkw erfolgreich gewesen ist im Sinne der Täter, also besonders viele Leute umgebracht hat, besonders viel Elend erzeugt hat. Das sind so stellen, wo Medien auch vorsichtig sein können. Sie müssen ja nicht unbedingt im Detail zeigen, welche Konsequenzen, welche aus Sicht der Täter positive Konsequenzen eine solche Attacke hat, sondern man kann das auch auf eine andere Art und Weise darstellen. Der Umgang mit Bildern ist hier an dieser Stelle von besonderer Bedeutung.
Frenzel: Wie groß ist die Gefahr durch mögliche Nachahmer nach der Tat von Berlin? Im Gespräch dazu war Ulrich Wagner, Sozialpsychologe an der Uni Marburg. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Wagner: Gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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