Gesa Ufer liest Musik

Grenzüberschreitender Schlager

Der französische Chansonnier und Komponist Gilbert Bécaud.
Der französische Chansonnier und Komponist Gilbert Bécaud. © dpa / picture alliance / Uli Deck
Von Gesa Ufer · 17.09.2015
Mit seinem Lied "Nathalie" wünschte sich der Franzose Gilbert Bécaud das Ende des Kalten Krieges herbei. Grenzen überwinden - ein Thema, das angesichts der europäischen Flüchtlingskrise wieder aktuell ist.
Er muss ein Tier auf der Bühne gewesen sein, und seine Auftritte waren so elektrisierend, dass sie Gilbert Bécaud den Beinamen Monsieur 100.000 Volt einbrachten. 1964 kam "Nathalie" in Frankreich heraus, ein Jahr später sang Bécaud seinen Schlager sogar auf Deutsch:
"Moskau war groß und so kalt, neben mir ging Nathalie,
Mir gefiel nicht allein ihr Name, Nathalie.
Moskau war kalt aber schön, ich glaube, ich sah nur sie,
Auf dem Roten Platz blieb sie stehen, Nathalie.
Sprach in gelerntem Ton von der Oktoberrevolution,
Ich hörte: Komm her! Sah nebenbei mir Lenin an,
Und dachte vielleicht geh ich dann mit ihr ins Café Puschkin."
Die Sowjetunion war eine Art verbotene Frucht, eine Welt für sich hinter dem Eisernen Vorhang, rätselhaft, angsteinflößend und faszinierend zugleich.
1965 tauten die Nuklearmächte den Kalten Krieg zwar ein wenig mit einem Atomteststopvertrag auf, aber es war Bécauds Nathalie, die dem Kommunismus sein menschliches und noch dazu so anziehendes Gesicht gab.
"Moskau war nicht mehr so kalt, und sie saß mir vis à vis.
Sie hatte so schöne blaue Augen, Nathalie. Nathalie."
Politische Utopie verschmilzt mit Schlager
Die Geschichte von dem jungen Franzosen, der sich in Moskau verliebt und es schafft, alle ideologischen Gräben durch zärtliche Übergriffe zu überwinden, rührte das Publikum in Frankreich und Deutschland gleichermaßen. Und sorgte nebenbei dafür, dass sich auch die beiden Nationen, die noch 20 Jahre zuvor gegeneinander Krieg geführt hatten, weiter annäherten. Ab 1967 bekam Gilbert Bécaud eine eigene Show im deutschen Fernsehen. Sechs Jahre später verlieh ihm die Bundesrepublik sogar das das Verdienstkreuz 1. Klasse. Auch deshalb weil kaum jemand Verliebtheit und politische Utopie so schön in einem Schlager verschmolzen hatte wie er:
"Und nun bin ich fern von ihr, ihre Küsse vergesse ich nie,
Eines Tages kommt sie zu mir, Nathalie, Nathalie."
Auf Französisch und wörtlich übersetzt klingt das weniger schlicht:
"Que ma vie me semble vide, mais je sais un jour á Paris. C´est moi son guide."
Wie leer erschien mir mein Leben. Doch ich weiß: Eines Tages werde ich ihr Reiseführer in Paris sein.
Was 1965 wie eine unerreichbare Utopie klang, eine Welt ohne Mauern zwischen West und Ost, das war Jahrzehnte später fast schon zur Selbstverständlichkeit geworden. Heute kommt doch wieder alles anders, Grenzen werden dichtgemacht, neue Mauern und Zäune sind geplant, und Gilbert Bécauds Russland, das im Westen so gern romantisch verklärt wurde, das mit Spionage und Abenteuer verbunden war, ruft derzeit keine große Sympathien mehr hervor. Als Unterstützer des Assad-Regimes und mit der Annexion der Krim befördert es Flucht, Vertreibung und letztlich auch die Errichtung neuer Grenzen.
Die Idee, sich in den Menschen hinter dem Protokoll zu verlieben, übernahm Mitte der 80er-Jahre übrigens auch Elton John in seinem Song Nikita.
Im Video beobachtet der exzentrische Engländer vom Trabi-Cabrio aus eine scharfe russische Grenzsoldatin im geteilten Berlin. Dabei hätte es doch eigentlich ein Grenzsoldat sein müssen. Immerhin ist Nikita ein männlicher Vorname – aber dieses Detail wollte der noch nicht geoutete Star seinen Fans vielleicht nicht auf die Nase binden. Auch die Grenzen der Sexualmoral waren andere. Bleibt nur zu hoffen, dass wenigstens sie für immer niedergerissen bleiben.
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