Geistliche Musik

Die Klagelieder des Jeremia in der Osterliturgie

Ein palästinensischer Mann trägt ein Kreuz an den Beginn der Via Dolorosa in Jerusalem zurück.
Strecke der Prozession auf der Via Dolorosa in Jerusalem: Musikalisch spielen an Ostern Klagelieder eine große Rolle. © picture alliance / dpa / Jim Hollander
Von Arne Reul · 05.04.2015
Die Aufführungen musikalischer Passionen gehören zu den Höhepunkten in der Osterzeit. Neben den bekannten Stücken von Johann Sebastian Bach gibt es jedoch noch andere liturgische Traditionen - zum Beispiel die Klagelieder des Propheten Jeremia.
"Für die ersten Christen gibt es nur eine heilige Schrift. Und diese eine heilige Schrift sind die heiligen Schriften des antiken Judentums. Und das meint: Es werden die Schriften, die später erst Altes Testament wurden, als Weissagungen oder als Typologien auf das in Jesus Christus geglaubte Heilsereignis verstanden. Und deshalb können diese jetzt christologisch verstandenen Klagelieder in der Karwoche – dort haben sie ihren Ort: am Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag – seit der alten Kirche gebetet und gelesen werden."
Für die ersten christlichen Gemeinden, so Markus Witte, Professor für Exegese und Literaturgeschichte des Alten Testaments an der Humboldt-Universität zu Berlin, waren die Schriften des Alten Testaments eine wichtige Bezugsquelle. Sie halfen, dem neuen Glauben eine spirituelle Basis zu verleihen. So wurde zum Beispiel die Figur des sogenannten "leidenden Gerechten" aus dem Alten Testament von den frühen Christen auf Jesus hin interpretiert. Viele weitere Motive, zum Beispiel der Erlösungsgedanke, wurden wichtige Referenzen für das Christentum. In diesen Kontext gehören auch die sogenannten "Klagelieder Jeremias". Hier haben die Christen einen alttestamentlichen Text übernommen, der auch Eingang in die christliche Liturgie gefunden hat. So gehören die Klagelieder zur traditionellen Osterliturgie in der Karwoche, sie sind damit gottesdienstlicher Bestandteil der höchsten kirchlichen Feiertage.
Traditionell werden die Klagelieder in den frühmorgendlichen Karmetten – auch Finstermetten genannt – gelesen, meditiert und gebetet. Sie werden aber auch gesungen, denn seit dem frühen Mittelalter setzten Komponisten diese Texte immer wieder in Musik. Aber über was genau klagt das alte Israel? Die Klagelieder berichten über eine Begebenheit, die tatsächlich stattgefunden hat: Es handelt sich um die Zerstörung Jerusalems 587 v. Chr. durch die Babylonier. Eine der tiefsten Zäsuren in der Geschichte des Judentums.
Zitat: "Wie liegt die Stadt so wüste,
die voll Volks war!
Sie ist wie eine Witwe,
die mächtig war unter den Völkern -
Die Länder beherrschte muss nun Sklavenarbeit tun."
"Die Neubabylonier sind bis zum Mittelmeer und auch bis nach Ägypten vorgedrungen und stehen das erste Mal in den Jahren 598/597 v. Chr. vor den Toren Jerusalems und nehmen auch erstmalig Jerusalem ein, zerstören die Stadt jedoch nicht. Es findet aber eine erste Deportation von Angehörigen der Oberschicht nach Babylonien statt. Zehn Jahre später sind die Neubabylonier erneut vor den Toren Jerusalems und belagern die Stadt. Es kommt zur Eroberung der Stadt: Zur Zerstörung der Stadtmauer, zur Zerstörung des Tempels, zur Beseitigung der Eigenstaatlichkeit Judas."
Durch die Zerstörung Jerusalems wurden auch die politischen und religiösen Grundfesten Israels vernichtet. Mit der Absetzung des Königs, geht zudem die Idee des durch ihn verkörperten Gottesstaates Israel verloren. Außerdem verlieren die Juden durch die Zerstörung des Tempels die zentrale Kultstätte ihrer Religionsausübung. Dieses Ereignis fassen die Klagelieder in ebenso dramatische wie auch poetische Worte. Demnach war die Belagerung und Zerstörung Jerusalems mit unvorstellbaren Hungersnöten verbunden. Priester und Propheten wurden erschlagen. Kinder und Greise, Jungfrauen und Jünglinge, so die Schilderungen, fielen durch das Schwert.
Doch die Klagelieder versuchen, das große Leid auch zu erklären. Die Frage wie Gott dies zulassen konnte, mündet in eine theologische Interpretation, die auf die Beziehung Israels zu Gott abzielt.
"Letztlich ist es doch auch bei diesen Liedern so, dass die Asymmetrie zwischen Zorn Gottes als Gerichtsmetapher und Barmherzigkeit als der anderen Seite gewahrt wird. Das heißt, die Barmherzigkeit oder Gnade dieses Gottes wird als immer größer angesehen als sein Zorn. Der Zorn ist zeitlich befristet, die Gnade oder die Barmherzigkeit ist zeitlich unbefristet. Also die Erfahrung, selbst in der Krise oder selbst in der Katastrophe zu überleben, prägt die Lieder in ihrer Endgestallt."
Zitat: "Du nahtest dich zu mir, als ich dich anrief, und sprachst: Fürchte dich nicht!
Du führst, Herr, meine Sache und erlöst mein Leben."
Die Gegenüberstellung der Katastrophe und einem sich schließlich barmherzig erweisenden Gott findet seine Entsprechung in der Kreuzigung und Auferstehung von Jesus Christus. Dies ist der Grund, warum die Klagelieder in den Lesungen der sogenannten "Finstermetten" der Osterliturgien einen so prominenten Platz einnehmen.
Poetische Sprache mit enormer Anziehungskraft
In den vergangenen Jahrhunderten übten die Klagelieder mit ihren eindrucksvollen Bildern und ihrer poetischen Sprache auf etliche Komponisten eine enorme Anziehungskraft aus. So entstand ein gigantisches Repertoire an Lamentationskompositionen, das bis heute kaum erschlossen oder wiederentdeckt ist. Allein in Neapel mit seinen vier angesehenen Konservatorien entwickelte sich eine epochenübergreifende hochstehende musikalische Auseinandersetzung mit den Klageliedern. Stellvertretend für viele sei hier die 1751 entstandene Vertonung von Francesco Durante genannt. Gerade der Kontrast zwischen dem Zorn Gottes und der Bitte um seine Barmherzigkeit forderte die Komponisten zu einer entsprechenden musikalischen Umsetzung heraus.
Gut 200 Jahre vor Durante, also um 1550, hat der englische Komponist Thomas Tallis, die Klagelieder vertont. Tallis war Mitglied der hochangesehenen "Chapel Royal", der königlichen Kapelle. Er schuf mit seiner Klageliedvertonung "The Lamentations of Jeremiah" eine Musik, die mit ihren harmonischen Spannungen und einer ausgereifter Polyphonie auf dem höchsten Niveau ihrer Zeit stand.
Gerade die hier von Tallis vertonten Worte "Wie liegt die Stadt so wüst" führten 400 Jahre später angesichts der Zerstörungsmacht des Zweiten Weltkriegs zu einer aktuellen Auseinandersetzung mit den Klageliedern. Komponisten wie Igor Strawinsy, Ernst Krenek oder Leonard Bernstein setzten in den 40er- und 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts die Klagelieder in eine moderne Musiksprache. Am bekanntesten wurde hierzulande sicherlich die Vertonung von Rudolf Mauersberger, dem Leiter des Dresdner Kreuzchores. Seine Bestürzung über die Zerstörung Dresdens, veranlasste ihn 1945 zur Komposition der Trauermotette die schon im Titel die Worte "Wie liegt die Stadt so wüst" verwendet.
In diesem Zusammenhang lässt sich auch eine Lehre aus den Klageliedern lesen. Es ist der im Alten Testament häufig vorkommende Tun-Ergehen-Zusammenhang: Unser Handeln kann schlimme Konsequenzen haben, trotzt aller Barmherzigkeit Gottes. Es gilt sich dies immer wieder bewusst zu machen. Eine solche Aufforderung, erkennt auch Markus Witte in den Klageliedern. Die Osterzeit, in der die Klagelieder gelesen und gesungen werden, kann uns für eine solche Botschaft sensibilisieren.
"Sie haben ein ganz starke Auseinandersetzung mit der Frage menschlicher Selbstverantwortung und menschlicher Schuld. Und insofern sind sie natürlich ein Spiegel für menschliches Handeln und können dann auch in gewisser Weise, so wie das römische Memento Mori, gelesen werden – sich der Folgen des eigenen Tuns bewusst zu sein."
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