Frankreich

Kammermusik im Problem-Kiez

Von Dirk Fuhrig · 28.12.2013
L'Estaque ist als Problemviertel Marseilles verrufen. Jetzt hat dort ein kleiner, edler Saal für Kammermusik eröffnet, in dem ein Ensemble Neue Musik aufführt.
Die Akustik ist hervorragend. Raoul Lay ist ganz in seinem Element, wenn er den Klang in seinem neuen Konzertsaal ausprobiert.
Lay: "Holz reflektiert den Klang sehr stark. Ich dachte mir daher: Wir reduzieren die Resonanz nach und nach mit einem Vorhang und akustischen Elementen. Das ist viel einfacher, als einen Raum im Nachhinein mühsam zum Klingen zu bringen. Die Holzkonstruktion hat uns auch gut gefallen. Holz ist außerdem ein nachhaltiges Baumaterial, und darauf achten wir hier in der Region sehr. Außerdem gibt es nichts Besseres für eine gute Akustik als Holz."
Aus akustischen Gründen wurden in die Vertäfelung kleine Löcher gebohrt. Aber die regelmäßige Perforation gibt der Verkleidung gleichzeitig auch eine besondere Struktur, ein Design. Er sieht edel aus, dieser Konzert- und Probensaal für das Avantgarde-Orchester Télémaque, zu dem die Architektin Sidonie Daher das ehemalige Kino Rio umgebaut hat.
Daher: "Ich dachte von Anfang – und da ist mir Raoul Lay immer gefolgt –, dass der Raum eine Idee transportieren soll. Und er sollte absolut einzigartig werden, also bloß kein Mehrzweckraum. Eine Marke, ein Aushängeschild für das Ensemble Télémaque."
"PIC", Pôle Instrumental Contemporain, also Kraftzentrum für zeitgenössische Instrumentalmusik etwa, nennt Raoul Lay sein neues Haus. Der 1964 in Marseille geborene Komponist und Dirigent hat immer wieder in Deutschland gearbeitet, etwa mit Peter Eötvös in Darmstadt. Oder mit dem Ensemble Modern. Ganz wichtig ist ihm die Öffnung der Neuen Musik gegenüber anderen Kunstsparten. Bei der nächsten Kunstbiennale in Venedig wird er dabei sein. Gemeinsame Projekte mit Zirkusgruppen und Straßenmusikern sind für ihn ebenso selbstverständlich wie mit Tänzern oder Regisseuren.
Der Fischerort L'Estaque, der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Malern wie Braque, Cézanne oder August Macke als pittoreskes Motiv diente, ist auch für Raoul Lay inspirierend.
"L'Estaque war das Viertel der Künstler. Die Impressionisten kamen hierher, um den Hafen zu malen. An diesem äußersten Rand von Marseille gibt es enorme Probleme, eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Seit Neuestem ziehen hier aber die 'Bobos' ein, die bürgerlichen Bohemiens."
Das "Rio"-Kino, in dem nun das Ensemble für zeitgenössische Musik residiert, wurde um 1900 eröffnet. Ganz sicher ist der Kammermusiksaal eine der neuen Preziosen der Kulturhauptstadt Marseille. Raoul Lay will aus dem Kleinod mit den 100 Sitzplätzen einen kulturellen Anziehungspunkt gerade für musikalischen Nachwuchs machen.
"Marseille ist ja zweigeteilt, und in Arrondissements wie diesem hier gibt es kaum kulturelle Angebote – aber eine große Nachfrage, das haben wir vom ersten Tag an gemerkt. Wir könnten hier jeden Abend ein Konzert geben und wären ausverkauft. Alle haben gesagt: Ihr seid verrückt, Ihr mit Eurer zeitgenössischen klassischen Musik in L'Estaque. Ausgerechnet dort. Aber nein, es gibt einen großen Hunger auf Kultur. Ich denke vor allem an die Schüler, die sind noch viel offener, was ihren Geschmack angeht, als die Erwachsenen."
Bislang probt und spielt vor allem das Ensemble Télémaque im PIC. Ab dem kommenden Jahr will Raoul Lay verstärkt Musikerkollegen aus ganz Europa in sein neues Domizil einladen. Auch Komponisten in residence will er von den Reizen des Viertels L'Estaque ebenso überzeugen wie von den klanglichen Qualitäten des Saals – und natürlich von dessen einzigartiger Atmosphäre.
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