Film "Overgames"

Spielerische Umerziehung einer verrückten Nation

Die beliebte TV-Show "Spiel ohne Grenzen" 1970 in Berlin: Die Teilnehmer rollen auf Drahtseilen balancierend rote Bälle über ein Wasserbecken.
Die beliebte TV-Show "Spiel ohne Grenzen" 1970 in Berlin: Die Teilnehmer rollen auf Drahtseilen balancierend rote Bälle über ein Wasserbecken. © dpa / picture alliance / Martin Athenstädt
Lutz Dammbeck im Gespräch mit Susanne Burg · 16.04.2016
Der Dokumentarfilm "Overgames" zeigt heitere und ernste TV-Spiele im deutschen Nachkriegsfernsehen, Therapien zur Um- und Selbstumerziehung, sowie die Ideengeschichte einer permanenten Revolution. Eine "psychisch gestörte Nation" habe im TV "Spielen wie aus dem Irrenhaus" zugeschaut, sagt Regisseur Lutz Dammbeck.
Susanne Burg: "Beat the Clock" – so hieß eine der beliebtesten Spielshows in den USA. In Deutschland hieß sie "Nur nicht nervös werden" und lief ab 1960 in der ARD. Der Untertitel: "Verzwickte Spiele für geschickte Leute". Mit Säcken über dem Körper mussten die Gäste Plastiktöpfe auf den Kopf heben oder einen Luftballon in einen Plastikreifen quetschen, beobachtet vom Showmaster Hans-Joachim Fuchsberger. Sie mögen jetzt vielleicht meinen: Ja, klar, der Beginn der seichten Fernsehunterhaltung, aber was ist, wenn ich Ihnen sage, dass diese Spiele das Publikum nicht unterhalten sollten, sondern umerziehen, dass diese Spiele dazu da waren, die Nachkriegsdeutschen psychisch zu heilen, sie vor einem Rückfall in den Faschismus zu bewahren?
Das sind einige der interessanten Thesen, denen der essayistische Dokumentarfilm "Overgames" nachgeht. Er stammt von dem Künstler und Filmemacher Lutz Dammbeck, der schon zuvor sich mit den Zusammenhängen von Kunst, Wissenschaft und Macht auseinandergesetzt hat. "Overgames" kommt am Donnerstag in die Kinos, und ich freue mich, dass Lutz Dammbeck vorab bei uns im Studio von "Vollbild" ist. Willkommen!
Lutz Dammbeck: Hallo!
Burg: Herr Dammbeck, am Anfang war ein Ausschnitt aus einer deutschen Talkshow, in der Joachim Fuchsberger Folgendes behauptet:
Joachim Fuchsberger: Das war eine Zusammenfassung von Spielen, die aus der amerikanischen Psychiatrie kamen. Es wurden dort psychisch… Man hat in Amerika psychisch gestörte Menschen im Sanatorium oder dort, wo sie waren, mit solchen Spielen befasst, um sie aus ihrer Verklemmung, aus ihrer Erstarrung herauszuholen, dass sie vollkommen vergessen haben, dass sie da irgendeiner Therapie unterlagen, und die haben gespielt wie die Wilden, und dann kam in Amerika einer drauf und hat gesagt, daraus machen wir eine Show, und es war eine der erfolgreichsten der später 50er-Jahre, und ich habe das dann hier als "Nur nicht nervös werden" Anfang der 60er-Jahre hier beim WDR. Eine verrückte Nation, eine psychisch gestörte Nation.

Spiele aus der Psychiatrie

Burg: Die andere Gäste lachen hier. Wieso hat Sie, Lutz Dammbeck, diese Aussage so fasziniert, dass sie dann Ausgangspunkt Ihrer Recherchen wurden?
Dammbeck: Weil abgesehen davon, dass mir dieses Lachen der Gäste der Show über Fuchsbergers Statements so gut gefallen hat, weil das total ehrlich war, weil diese Spiele, mit denen jetzt Fuchsbergers Sentenz unterlegt war, auf einmal wirklich wie Spiele aus dem Irrenhaus aussahen, also wo man vorher gesagt hat, das sind ganz harmlose Gesellschaftsspiele – Sackhüpfen, Eierlaufen –, durch diese Zuschreibung von Fuchsberger, dass diese Spiele in der Psychiatrie entwickelt worden seien sollten – so muss man es korrekt formulieren –, sah man das plötzlich oder sah man anscheinend das: Das sind Verrückte, das sind Spiele aus der Psychiatrie.
Was aber das eigentlich Wichtigere für mich war, wieso hat damals eine verrückte, eine psychisch gestörte Nation zugeschaut. Da gelangt man dann schnell auf diese Konzepte einer Reeducation oder man kann sagen Umerziehung. Da kann man jetzt darüber streiten, ist das jetzt ein Begriff, den die Nazis entwickelt haben. Man findet den aber auch als deutsches Wort für Reeducation bei Kurt Lewin. Also da ist, glaube ich, die Fachwelt noch nicht ganz einig, dass da Psychologen, Psychiater, Psychoanalytiker an der Ausarbeitung dieser Konzepte beteiligt waren. Das beginnt schon Anfang der 1940er-Jahre, und zwar haben die sich damit beschäftigt, also wann beginnt das, dass die Deutschen sozusagen eine Fehlentwicklung haben oder wo holen die sich ihren Knacks. Dann, wo kommt der Knacks her, wie definiert man den, wie analysiert oder diagnostiziert das Phänomen des Knackses und wie heilt man den. Wenn man dann sich mit diesem ganzen Feld beschäftigt, stößt man bei den Psychotherapeuten und Psychoanalytikern und Psychiatern darauf, dass die natürlich mit Spielen arbeiten, und auf einmal scheint die Möglichkeit am Horizont, dass das eventuell stimmen könnte, was der Fuchsberger gesagt hat, also dass sich das jetzt alles miteinander logisch verbindet.

Faschismus als Teil einer psychischen Dysfunktion

Burg: Ist trotzdem eine interessante These, auf der man auch erst mal rumkauen muss, dass der Faschismus eigentlich Teil einer psychischen Dysfunktion sein soll. Entwickelt wurde das unter anderem auch aus den Thesen von Ethnologen und Psychiatern um Margaret Mead und Richard Brickner. Besteht darin auch eine gewisse Gefahr, das so zu reduzieren auf eine kranke Nation und damit auch den Deutschen so ein bisschen die Schuld für ihre Taten abzusprechen?
Dammbeck: Es beginnt eigentlich anders: Es beginnt sozusagen erst mal da, dass man, ich nenne das mal moderne Schäden bemerkt Ende der 1920er-Jahre. Da geht es erst mal um Abweichungen in der eigenen Gesellschaft. Zuerst machen sich die amerikanischen Wissenschaftler Gedanken über das eigene Wohlbefinden und über die eigenen Abweichungen von der Norm. Als Ursachen werden dann betrachtet, nennen wir das ruhig moderne Schäden – also Technik, Nervosität, die Leute werden nervös, weshalb werden die denn nervös, und die überlegen jetzt, wie gehen wir jetzt erst mal damit um, was können wir mit unseren eigenen Leuten machen. Mead und Bateson, die fahren dann zum Beispiel in sogenannte basale oder primitive Gesellschaften und wollen rausfinden, wie gehen denn die zum Beispiel in Bali mit solchen psychischen Abweichungen um und stellen fest, dass diese primitiven Gesellschaften etwas haben, nämlich eine Kultur, die einen Ritus noch hat, die noch religiöse Zeremonien hat, wo das Abweichende gebunden werden kann. Die können das einfangen. Das ist ganz interessant.

Eine Therapie für Westdeutschland

Als sie '39 da aus Bali zurückkommen, dann beginnt schon die Stimmung zu kippen, und man bereitet sich auf einen Krieg vor. Im Zuge dieser Kriegsvorbereitung wird es interessant, den Gegner … also nicht nur sich selbst, wer sind wir, was sind unsere Stärken, unsere Schwächen, und was sind aber die Stärken und die Schwächen des Gegners, wie ticken die, und vor allem, wie tickt die Jugend. Es gibt ein schönes Buch von Margaret Mead, dann sagt die, wir haben jetzt die historische Aufgabe, zu beenden, was unsere Vätergeneration sozusagen versäumt hat, also wo die versagt haben, sich zu früh aus Europa zurückgezogen zu haben, um die Sache nicht beendet zu haben. Die Sache ist, Europa, dem alten abgelebten alten Europa, diese amerikanische Demokratie zu bringen. Jetzt ist die Situation und die Chance da, diesen Fehler wiedergutzumachen. Das ist ganz klar das Selbstverständnis, und nun wird nach Mitteln und Methoden gesucht, diesen Gegner zu analysieren, diesen Knacks zu diagnostizieren und eine Therapie zu entwickeln. Man bildet so eine Art Dreieck als neuen Politikansatz – Militär, Ökonomie und Kultur –, und wenn man sich dann diese praktischen Reeducation-Konzepte anguckt, dann ist es genau das, was dann nach 1945 am Testfall, an der Labormaus – amerikanische Zone ist dann Westdeutschland –, in dieser amerikanischen Zone wird schon versucht, von dieser Plattform aus zu agieren.
Burg: Sie fahren auch für Ihre Recherche – sieht man im Film – in die USA und treffen dort Produzenten dieser Shows und Sendungen in Amerika. Die bestätigen aber Ihre These nicht. Im Film selbst wirkt sie erst mal verführerisch einleuchtend. Wissen das die Showproduzenten in Amerika nicht besser oder haben Sie nicht die volle Wahrheit erzählt?
Dammbeck: Also über das, was wir jetzt gerade gesprochen haben, wird eigentlich in diesen Kreisen nicht diskutiert. Ich glaube, die würden es interessant finden, wenn man diese Gespräche mit ihnen führen würde, aber das ist jenseits – wie soll ich sagen – der Medienwirklichkeit. Man muss es auch mal ganz genau sagen: Der Fuchsberger sagt, diese Spiele sollen in der Psychiatrie in Amerika entwickelt worden sein. Er sagt nicht, dass diese Spiele Teil der Reeducation-Konzepte gewesen sind. Es ist nur so, indem der Film verschiedenes Material ausgräbt und vorstellt, dass sich also im Publikum, und bei mir natürlich eine Zeit lang auch, die Möglichkeit aufbaut, es könnte also eine direkt-logische Verbindung gegeben haben.

Sehr viel totes Material

Burg: Auch in diesem Film ist für Sie die Recherche selbst der dramaturgische Leitfaden. Man sieht Sie im Film, wie Sie über Büchern, Akten, Dokumenten sitzen, lesen, suchen, vergleichen. Wieso ist es Ihnen wichtig, dass der Zuschauer Ihnen bei der Arbeit zuguckt und so den Rechercheprozess auch offengelegt bekommt?
Dammbeck: Die Filme sind immer offene Systeme. Sie sind offene Systeme, mit denen man am offenen System arbeitet oder das offene System kritisch bearbeitet oder kritisch reflektiert. Was von Anfang klar war, war, es wird diese Atelierebene geben, weil auch klar war, dass es sehr viel totes Material geben wird, was einer bestimmten Art von Inszenierung bedarf. Dann war mir auch wichtig, gerade jetzt in diesem digitalen Zeitalter noch mal auf die Schönheit von Papier, von Bibliotheken, von Heftklammern, die eine Rostspur auf einem Stück Papier hinterlassen haben, also noch mal auf diese Art des Fixierens von Denken hinzuweisen. Dann war es ganz einfach ein Mittel, um diese doch sehr disparaten Materialteile aus so vielen Zeitebenen zu inszenieren. Wie soll man das sonst machen.
Burg: Das wäre jetzt auch meine Frage gewesen: Wie bewältigt man eigentlich diese Masse Material? Wie arrangiert man das dann in einem Film, und wo waren die Schwierigkeiten?
Dammbeck: Die Schwierigkeit ist ganz einfach, das wächst, und irgendwann kann man nicht mehr schlafen, weil vor allem steht der Watzmann, also da steht so eine Alpenfestung aus Material, und man versteht das auch alles erst mal gar nicht. Das Problem ist natürlich ein Zeitproblem: Man muss es erst mal alles gelesen und gesehen haben, man muss es sich auch – wie das Gehirn das überhaupt trägt – merken, was man hat, um dann anzufangen, sowas wie Linien und Zusammenhänge zu erkennen, wobei bei diesen Zusammenhängen … es zusammenzuschieben muss man immer aufpassen, weil es gibt ununterbrochen Löcher, die sich nicht schließen lassen, so wie diese Frage mit dem Fuchsberger – stimmt das denn –, und wenn man das eben nicht schließen kann, muss es offen bleiben. Das macht natürlich Leute im Film oder im Kino einfach unruhig, weil man hat gerne … das ist eine Story, die läuft durch, und am Ende habe ich ungefähr doch so eine Art Happy End.
Burg: Am Donnerstag kommt ein Film in die Kinos, der sehr viele Anregungen gibt zum Nachdenken – der essayistische Film "Overgames". Lutz Dammbeck ist der Regisseur. Vielen Dank für Ihren Besuch!
Dammbeck: Ich habe zu danken!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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