Auslaufmodell Musikalienhandlung?

Mit dem Startenor an der Kasse

Das Schaufenster einer Musikalienhandlung in der Berliner Müllerstraße
Das Schaufenster einer Musikalienhandlung in der Berliner Müllerstraße © imago / Schnöning
Von Claus Fischer · 17.07.2015
Neue Stücke für das heimische Klavier oder den Geiger eines Sinfonieorchesters - vor rund 20 Jahren noch ging man dafür in die Musikalienhandlung. Die Konkurrenz des Internets hat den Geschäften aber schwer zugesetzt. Doch so mancher trotzt dem Druck - mit Möglichkeiten, die das Netz nicht bietet.
Leipzig, Innenstadt. Etwa auf halbem Weg zwischen der Thomaskirche, in der der weltberühmte Thomanerchor regelmäßig auftritt, und dem Gewandhaus liegt die Musikalienhandlung Oelsner, im Familienbesitz seit 155 Jahren. Hier, so wird gelegentlich gesagt, schlägt das Herz der Musikstadt Leipzig.
Michael Rosenthal: "Das ist also eine Schreib-Registrierkasse von 1912, dürfte nicht mehr so oft in Deutschland in den Läden stehen. Sie hat 'ne feine Technik und macht auch Geräusche."
Selbst ein so profaner Vorgang wie das Abkassieren ist bei Oelsner ein "Traditionsakt". Wenn Musikalienhändler Michael Rosenthal seine Kasse betätigt, kommt man zwangsläufig ins Phantasieren: der Komponist Max Reger, der Gewandhauskapellmeister Arthur Nikisch, der Thomaskantor Karl Straube - sie alle dürften das typische Klingeln gehört haben. Schriftlich verbürgt ist das jedoch leider nicht, denn Rosenthals Urgroßvater Maximilian Oelsner hat nicht aufgeschrieben, wer bei ihm einkaufte. Prominenz kommt bis heute regelmäßig ins Geschäft.
"Wenn auf einmal Professur Masur dasteht, oder früher Herr Schreier dastand, und da kommt ein Kunde rein und sagt 'Das ist der Schreier' - Sie fühlen sich dann mitten im Kulturleben mit drinne."
Startenor Peter Schreier taucht heute altersbedingt nicht mehr so häufig im Laden auf. Dafür viele jüngere Musikerkollegen.
Michael Erben: "Jedesmal wenn ich dort einkaufe, geht es eigentlich nicht nur um Noten, sondern um Musik im Allgemeinen, das Kulturleben der Stadt",
sagt Frank-Michael Erben, erster Konzertmeister des Leipziger Gewandhausorchesters, und zwinkert dabei Ladeninhaber Rosenthal verschmitzt zu.
Michael Erben: "Vor zwei, drei Wochen war ich bei ihm. Dann überreicht er mir Noten, die ich eigentlich gar nicht kaufen wollte - um meine Meinung darüber zu erfahren; also eine Neuedition der Brahms-Violinkonzerte, und ich konnte ihm Einiges dazu sagen. Das ist immer eine Befruchtung auf gegenseitiger Basis."
Rund die Hälfte aller Traditionsgeschäfte eingegangen
Was die Musikalienhandlung Oelsner für Leipzig ist, ist die Musikalienhandlung Riedel für Berlin. Ihre Tradition reicht immerhin rund 100 Jahre zurück. Und auch sie hat einen prominenten Kundenstamm. Zu ihm gehören Mitglieder der Berliner Philharmoniker und der anderen Sinfonieorchester der Hauptstadt ebenso wie die Sängerinnen und Sänger des Rundfunkchors oder er RIAS-Kammerchors.
Gregor Bosch: "Das sind Stammkunden. Und die sind auch für mich 'Verbreiter', die sagen: Da ist die Musikalienhandlung, wo du hingehen musst."
Gregor Bosch ist der Leiter der Musikalienhandlung Riedel, nicht aber der Inhaber. Das Traditionshaus musste nämlich vor einigen Jahren Insolvenz anmelden und wurde danach von einer Handelskette mit Sitz in Mainz übernommen. Der Fall Riedel, so Gregor Bosch war symptomatisch für die 2000er-Jahre. Damals sind rund die Hälfte aller Traditionsgeschäfte in Deutschland eingegangen.
"Es gibt ein großes Problem, das viele Musikalienhandlungen gehabt haben, grade auch in Berlin: Überbestände. Viel zu viel von Sachen, die dann über Jahre liegen, die eigentlich dann nur noch totes Kapital sind."
Neben Riedel in Berlin hat die Mainzer Handelskette noch neun weitere Musikalienhandlungen übernommen, die sonst für immer hätten schließen müssen. So blieben wenigstens die traditionsreichen Namen und das Angebot erhalten, obwohl die einzelnen Geschäfte jetzt nur noch Filialen sind. Allerdings gibt es auch nach wie vor Einzelkämpfer im Gewerbe, die sich behaupten können, wie zum Beispiel die Musikalienhandlung Oelsner in Leipzig. Deren Inhaber Michael Rosenthal trotz der Konkurrenz aus dem Netz vor allem mit einem Angebot: individuelle Beratung. Dabei vollbringt er manchmal auch kleine Wunder:
"Eine Studentin an der Hochschule, eine Ausländerin, hatte ein Flötenkonzert irgendwie im Rundfunk gehört und die wollte das Flötenkonzert haben. Und da hab ich dann festgestellt, dass das in Australien aufgeführt worden ist, uraufgeführt worden ist, dass das aber ein englischer Komponist war. Da bin ich über Australien nach England gekommen, habe Kontakt zu dem Komponisten aufgenommen, hat sich herausgestellt, dass der Komponist das noch gar nicht gedruckt hatte."
Die historische Registrierkasse wird weiter klingeln
Kurz und gut. Michael Rosenthal bat den Komponisten ums Manuskript, bekam es und die Musikstudentin war glücklich. Der persönliche Kontakt zum Kunden - er ist auch für den Leiter der Musikalienhandlung Riedel in Berlin Gregor Bosch das A und O seiner Arbeit. Das kann die virtuelle Konkurrenz schlicht nicht bieten. Und dazu kann man in puncto Schnelligkeit zumindest häufig mithalten.
Gregor Bosch: "Bei uns dauern Bestellungen etwa zwei bis drei Werktage. Oder wir schicken's dem Kunden aus unserem Hauptlager, was in Bayern ist, direkt zu. Dann hat er's vielleicht am nächsten Tag schon. Also man muss den Service unterstreichen, den das Internet vorgibt zu haben."
Der Verkauf von Noten – er macht nach wie vor den Hauptanteil des Umsatzes in deutschen Musikalienhandlungen aus. Bei Riedel in Berlin sind es 80 Prozent. Die restlichen 20 Prozent erwirtschaftet man mit dem Verkauf und Verleih preiswerter Musikinstrumente, zum Beispiel Violinen oder Gitarren für Anfänger und die – auch damit verbundene - individuelle Beratung.
Kunde: "Ich habe mir eine Gitarre ausgeliehen, um Gitarre spielen zu lernen. Ich hab die zuhause gestimmt und kam nicht weiter, mir sind die Saiten gerissen."
Das Problem dieses jungen Kunden konnte Händler Gregor Bosch innerhalb weniger Minuten lösen. In solchen Momenten wird klar, dass die Musikalienhandlung, trotz aller Schwierigkeiten, kein "Auslaufmodell" ist, sondern in jedem Fall Zukunft hat. Beim 155 Jahre alten Traditionshaus Oelsner in Leipzig bereitet sich jedenfalls gerade die nächste Generation der Inhaberfamilie auf die Übernahme vor. So wird die historische Registrierkasse von 1912 ganz sicher weiter klingeln.
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