Als Straßenmusiker in Berlin

"Irgendwo bin ich auch Idealist"

Ein Berliner Straßenmusiker, der in unserem Beitrag "Miguel" genannt werden möchte.
Der Berliner Straßenmusiker Raoul © Deutschlandradio / Frederik Rother
Von Frederik Rother · 21.06.2016
Raoul mag seinen Job als Straßenmusiker in Berlin - auch wenn der ziemlich anstrengend ist. Am liebsten tritt er in der S-Bahn auf. Das ist zwar verboten, der Umsatz ist hier aber besonders gut.
"Oh Scheiße! Ja, die Liste ist voll!"
Die Konkurrenz ist hart in Berlin – auch auf der kleinen Bühne für Straßenmusiker am Rande des türkischen Markts in Neukölln.
"Der nächste freie Platz wäre jetzt in gut vier Stunden, das natürlich noch 'ne Weile, was jetzt?"
"Naja, entweder ich finde raus, wer Scott MacMannon ist und frage ihn, ob wir tauschen können, ob er mehr Zeit hat, ob ich früher spielen kann, und wenn nicht, dann weiß ich jetzt Bescheid, und muss noch mal wiederkommen…"
Raoul braucht das Geld. Er und seine Familie leben davon.

Mit der U-Bahn zum nächsten Spot

Die Vormittagssonne knallt auf unsere Köpfe. Die Marktstände rechts und links vor uns bilden eine lange Gasse und verkauft wird hier fast alles: Obst, Gemüse, türkische Spezialitäten, aber auch Reisverschlüsse, Messer und OP-Besteck.
Dann ist klar: wir fahren mit der U-Bahn zum nächsten Spot, wie die Auftrittsorte in der Szene genannt werden. Das Ziel: Friedrichshain, Warschauer Straße.
"Ich bin immer ein bisschen aufgeregt. Ich bin auch ein bisschen aufgeregt, wenn ich mich in die S-Bahn stelle, um zu spielen. Das erste Mal war es unglaublich eine Überwindung, sehr starke, große Überwindung gekostet, aber wenn man dann erstmal drin ist und es erstmal macht, dann geht’s eigentlich."
Das erste Mal war vor gut fünf Jahren. Seitdem ist Raoul – ein gelassener Typ Ende 20, mit raspelkurzem Haar – als Gitarrist und Sänger in der Hauptstadt unterwegs, wie er mir in der U-Bahn erzählt.
"Aussteigen! Ne?..."

"Ich brauchte plötzlich mehr Geld"

Nach dem Abi ist er von Bremen nach Berlin gezogen: Theater spielen, jobben, Musik machen. Als seine Tochter auf die Welt kam, hat er angefangen, mit der Musik Geld zu verdienen:
"Es hat sich eigentlich eher so ergeben. Ich brauchte plötzlich einfach mehr Geld, das einzige was ich einigermaßen konnte, war irgendwie Musik machen, das einzige was ich machen wollte. Und dann ist Straßenmusik halt der naheliegende nächste Schritt."
Seitdem spielt er mehrmals die Woche an verschiedenen Orten. Er kennt inzwischen fast alle Berliner Spots für Straßenmusiker, wie etwa den Alexanderplatz, Mitte, oder den Hackeschen Markt. Vor allem Orte, an denen viele Touristen sind – die haben Zeit und Geld.
Auf der Brücke an der Warschauer Straße baut Raoul routiniert sein Set auf:
"Zwei Kabel, einmal für die Gitarre, einmal fürs Mikrofon. Mikrofon, Verstärker, anschließen, glücklich sein…"
Vor sich auf den Boden legt er den offenen Gitarrenkoffer – da soll das Geld rein. Dann stellt er sich selbstbewusst hin, schaut kurz in die Menschenmenge, setzt seine Sonnenbrille auf und legt einfach los.

In der S-Bahn gibt's mehr Geld

Im Repertoire hat er eigene Stücke und bekannte Coversongs, die laufen oft besser. Jetzt gerade spielt er Chaka Kahn's "Ain't Nobody". Songs von Adele, Bon Iver und Amy Winehouse gehören auch dazu.
Sofort bleiben ein paar junge Mädchen stehen. Sie machen Fotos, schauen kurz zu und legen etwas Geld in den Gitarrenkoffer. So geht es eine gute Stunde.
Wenn es richtig gut läuft, kann man an einem Abend schon mal um die 200 Euro verdienen, erzählt Raoul. Aber das sei die absolute Ausnahme. Deswegen arbeitet er seit einiger Zeit – obwohl es verboten ist – am liebsten in der S-Bahn:
"Weil der Umsatz einfach besser ist. Es ist weniger Aufwand, ich muss nicht den Verstärker mitschleppen, bin irgendwie die ganze Zeit unterwegs, ich kann sehr eingeschränktes Set spielen – es reicht, wenn ich drei, vier Songs spiele – und ich krieg halt pro Waggon in dem ich spiele irgendwie ein bisschen Geld…"
In zwei Stunden etwa 50 Euro und so kommt er auf ungefähr 200 Euro die Woche. Mit dem Geld von seiner Freundin und aus einem Nebenjob reicht es für die Wohnung und alles andere. Aber reich wird er damit nicht.

Wetter nicht beeinflussbar

Kassensturz.
"Und wie ist jetzt die Ausbeute nach 'ner Stunde ungefähr?"
"Nicht besonders gut, ich meine das sind 10, 15 Euro oder maximal 20, eher weniger. Am Wochenende, wenn's hier voll ist und man eine Traube hat von Leuten, dann wird das schnell mehr. Dann macht's auch mehr Spaß, die Leute stehen da, gucken einen mit offenen Augen an, wollen mehr und so. Das ist natürlich was ganz anderes."
Aber die Stimmung der Menschen und das Wetter kann er nicht beeinflussen. Auch das ein Grund für die S-Bahn.
"Finanziell gelohnt hat sich es jetzt heute nicht so. Aber… meine Güte, manchmal ist es auch gut einfach zu gehen und zu spielen, egal ob was bei rumkommt oder nicht."
Raoul mag seinen Job. Einen Bürojob mit festen Arbeitszeiten kann er sich nicht vorstellen, auch wenn das Leben als Straßenmusiker anstrengend ist: kein festes Einkommen, keine geregelten Arbeitszeiten. Wenn er krank ist, muss er trotzdem raus und ohne Motivation läuft gar nichts: Sehen die Menschen, dass er keinen Spaß hat, gibt es auch kein Geld.

"Eigentlich will ich nur Musik machen"

Nach gut eineinhalb Stunden packt Raoul zusammen. Es bleibt bei den 15 bis 20 Euro. Mehr ist heute nicht drin: Spielen und Singen sind anstrengend, die Sonne brennt und am Nachmittag kommt seine Tochter aus der Kita.
Diese Woche wird er sicher noch ein paar Mal spielen, erzählt er. Klar, mehr Arrangements auf Hochzeiten und Feiern wären gut, einen Plattenvertrag würde er auch nicht ablehnen. Aber …
"…irgendwo bin ich auch Idealist. Eigentlich will ich nur Musik machen."

Tanzen in der S-Bahn, Schlagzeug spielen in der U-Bahn-Station – Straßenmusiker lassen sich immer wieder neue Sachen einfallen, der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Unserer Sendung "Tonart" widmet der Straßenmusik eine kleine Serie.