"A Mineral Love" von Bibio

Das leiert so schön hässlich

Der Musiker Stephen Wilkinson - bekannt als Bibio
Der Musiker Stephen Wilkinson - bekannt als Bibio © Rough Trade/Joe Giacomet
Von Ina Plodroch · 01.04.2016
Als Bibio veröffentlicht der Brite Stephen Wilkinson sein achtes Album "A Mineral Love". Und das klingt, als hätte der Musiker mit vielen Samples, alten Soul-Platten und Disco-Sounds gearbeitet. Gemischt mit dem alten Kassetten-Leiern eine reine Retro-Platte. Oder mehr?
"Mainstream-Popmusik wandelt sich mit den technischen Möglichkeiten. Wenn man sich die Charts anschaut, ist alles glänzend, komprimiert, laut und glatt."
Was man von Stephen Wilkinsons Musik, die der Brite als Bibio veröffentlicht, nicht gerade behaupten kann.
Wie ein Folksong aus den 70ern, den man auf einer alten, leiernden Kassette wiedergefunden hat. Dabei ist dieser Song neu. Seit über zehn Jahren arbeitet Bibio an diesem Leier-Sound, als seien digitale Aufnahmetechniken komplett an ihm vorübergegangen.

"Mit Kassetten und Schallplatten aufgewachsen"

"Ich bin mit Kassetten und Schallplatten aufgewachsen. Meine ersten Aufnahmen habe ich auf Kassette gemacht, deshalb ist mir dieser Klang sehr vertraut. Mit meinem Bruder habe ich versucht, ganz rohe Mehrspuraufnahmen zu machen: Wir haben etwas aufgenommen und dann das Kassettendeck getauscht. Immer und immer wieder. Dadurch verstärkt sich dieses Leiern."
Auch nach acht Alben bleibt Stephen Wilkinson, fast 40, der das ruhige Landleben der trubeligen Metropole London vorzieht, dieser Technik treu. Seine Songs bewegen sich zwischen Folk, der durch einen Beat federleicht wird. Sphärischen Klängen, in denen der Gesang einfach verhallt und tanzbaren Popsongs dank analogen Synthesizern, Klavier, Rhodes und Schlagzeug mit Disko- und Funk-Bezügen.
Reizvoll, weil Wilkinson nicht störrisch eine alte Zeit aufleben lassen will, sondern mit seinen Songs irgendwo zwischen den Produktionstechniken der 60er und 70er in den großen Studios, analogen Synthesizern, akustischen Instrumenten, Laptops, Kassettenrekordern hängt.
Um Samples aus vergangenen Jahrzehnten handelt es sich trotzdem nicht – auch wenn Songs wie dieser hier, "With the thought of us", genau danach klingen.

"Alles von der Pike auf selbst eingespielt"

"Auf diesem Album hab ich keine Songs gesampelt. Ich habe das alles von der Pike auf selbst eingespielt. Dieser Song zum Beispiel soll nicht wie ein bestimmter Hit klingen, sondern eher nach der House-Bewegung in den 90ern insgesamt, wo alle diesen Orgel-Sound verwendet haben. Ich habe das auf all meinen Alben so gemacht: viele Referenzen, aber ich wollte immer, dass es nach mir klingt. Wenn ich mir einen Song anhöre, dann nehme ich nur eine kleine Idee davon. Ich höre mir das dann nicht stundenlang an, sondern nur einmal. Oder ich habe es vielleicht als Kind gehört. Der Song entsteht dann aus meiner Erinnerung heraus."
Mit dieser "Retromanie", die der Musikjournalist Simon Reynolds schon 2012 beschrieben hat, steht Bibio natürlich nicht allein da. Gerade im Independent-Bereich scheinen sich die meisten jüngeren Musiker in die Zeit ihrer Kindheit zurück zu wünschen – oder in Jahrzehnte, die sie selbst überhaupt nicht erlebt haben. Unechtes Schallplattenknistern inklusive.
Was Bibio macht, ist trotzdem anders: Popmusik, das erwähnt der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen gerne, erhält ihren Wert erst durch den Rezipienten. Jeder Hörer baut eine ganz persönliche Verbindung zu einem Song auf, hat eigene Erinnerungen dazu. Auch Bibio geht es so. Nur lässt er aus diesen Erinnerungen neue Musik entstehen und vermischt dabei Genres, Stile, Jahrzehnte. Kein Sample, sondern eine Annäherung an einen Song in seinem eigenen Stil, der im Nu wieder in die alte, geliebte Leier verfällt.

Leiern auch bei anderen Elektro-Künstlern beliebt

Das Leiern in der Popmusik hat es auch anderen Musikern angetan. Vor allem in der elektronischen Musikwelt lieben Künstler wie Baths, Connan Mockasin, Caribou oder Gold Panda den eiernden Sound. Was ist das Reizvolle daran? In der digitalen Welt ist das ehemals nervige Nebenprodukt des Walkmans oder des analogen Synthesizers doch eigentlich nicht mehr notwendig.
"Heute in der digitalen Zeit, in der alles total sauber klingt und es wirklich leicht ist, Musik sehr glatt zu produzieren, da wirken Dinge wie Kassette, alte Schallplatten noch spezieller, weil sie mehr Charakter haben. In der digitalen Produktion fehlt das gewisse Etwas. Wenn ich mit dem Computer aufnehme und es dann aber noch mal auf Kassette überspiele, klingt es sofort gefühlvoller, aber auch melancholischer. Unperfekt. Weil es eben alt klingt. Es hat etwas Nostalgisches und Verletzliches."
Scheinbar analog leiernde Sounds, die man als digitale MP3-Datei kaufen kann. Der Publizist Aram Lintzel schrieb dazu in der Zeitschrift "Pop – Kultur und Kritik":
"Man kann dies als Antwort auf das klangästhetische Paradox der Gegenwart deuten, als einseitige Auflösung des Widerspruchs zwischen klangtechnologischen Möglichkeiten und alltäglichen Hörpraktiken. Denn während Hifi-technisch Musik so gut klingen könnte wie nie zuvor, hören die meisten Leute Musik aus minderen Klangquellen wie Laptops, Handys und elektronischen Ohrstöpseln. 'Warum nicht gleich klingen lassen, wie aus einem schrottigen Sony Walkman?'"
Fragt sich, wie lange Popmusik noch leiern muss. Wie lange Technik nostalgisch-warm zu klingen hat – was immer das auch genau heißen mag. Werden vielleicht irgendwann datenarme MP3s, abgespielt über einen mickrigen Smartphone-Lautsprecher, als total schöner alter Klang, den man unbedingt erhalten muss, empfunden? Bis dahin leiert es jedenfalls abseits der Charts weiter. Im besten Fall wie bei Bibio, dessen großes Thema "Erinnern" auch das neue Album sehr gelungen zusammen hält.
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