75 Jahre Billboard-Charts

Wann ist ein Hit ein Hit?

Felix Jaehn
Der Hamburger Felix Jaehn hat es mit dem Remix eines Songs des jamaikanischen Sängers OMI im Juli 2015 an die Spitze der US-Charts geschafft. © picture alliance / dpa / Foto: Julia Nimke
Von Andreas Müller · 20.07.2015
Wer die meisten Tonträger verkauft, landet an der Spitze – aktuell Felix Jaehn. Über Jahrzehnte funktionierten nach diesem Prinzip die Hitlisten, die vor 75 Jahren vom amerikanischen Billboard Magazin kreiert wurden. Im digitalen Zeitalter verlieren die Charts aber an Bedeutung.
"I’ll Never Smile Again“ von Tommy Dorsey und seinem Orchester dürfte ein heute weitgehend unbekanntes Stück Musik sein (auch wenn der Sänger Frank Sinatra hieß), aber es schrieb Musikgeschichte: Das Lied war nämlich die erste Nummer 1 der Billboard Charts. Im Juli 1940. Den Versuch, den Erfolg eines Lieds zu messen, hatte es schon Jahre vorher gegeben, aber das Billboard Magazin, damals bereits das wichtigste Branchenblatt der Musikindustrie, führte eine neue Systematik ein, die die landesweiten Verkäufe von New York bis Los Angeles erfasste.
Die Charts wurden im Laufe der Jahrzehnte zur wichtigsten Währung, wenn es darum ging, den Wert eines Künstlers zu erfassen. Kurz: Wer viel verkauft, der ist gut. Was Musikkritiker verzweifeln lassen mag, war und ist ein wichtiges Kriterium für die an Profit orientierten Unternehmer.
Billboard war und ist kein journalistisches Magazin, sondern ein Branchenblatt. Schaut man sich Artikel aus den 60er-Jahren an, dann wird rasch klar, das dort über Musik geschrieben wurde wie in einem Fachblatt für Landwirte über die neuesten Traktoren-Modelle. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Verkäufe von Notenblättern ermittelt - so konnten Händler sehen, was ging und was nicht und dementsprechend disponieren.
Im Verlaufe der 40er-Jahre wird das Ganze immer mehr auch zu einem Marketing-Instrument. Der Erfolg misst sich eben an der Position in der Liste. Die Goldene Schallplatte wird erfunden (die Erste bekommt Glenn Miller) Man ermittelt die Platzierungen durch die Kombination von Verkäufen und Radio-Airplay – Manipulationen sind möglich und kommen immer wieder vor. Erst 1991 wird durch die Einführung des "Sound-Scans" zum ersten Mal ermittelt, was real verkauft wird. Vorher verließ man sich auf Angaben der Einzelhändler.
Mit der "Entdeckung" des Teenagers entsteht ein neuer Markt
Spannend wird die Geschichte gegen Ende der 1950er-Jahre: Mit der "Entdeckung" des Teenagers entsteht ein neuer Markt, das Tonträger Geschäft explodiert und Billboard führt die Hot 100 für Singles ein. Die Jukebox ist zu der Zeit der wichtigste Ausspielort für die neue Musik namens Rock and Roll. In die Jukebox passen aber nur 40 Singles (Standard bei den Wurlitzer-Boxen) bzw. man entdeckt, dass die Leute eigentlich die immer gleichen 40 Lieder drücken.
Das hat Auswirkungen: Top 40 wird erfunden – das heißt, Radioprogramme werden standardisiert. Man spielt, was die Leute hören wollen. Das führt zu einer Uniformierung, die bis heute anhält. Auch, bis auf wenige Ausnahmen, auf unserem Radiomarkt.
Die Charts suggerieren: ein guter Track ist der, der in den Top 40 ist. Die Plätze darunter "bubblen" – sie kochen – sprich, die könnten es schaffen, nach oben zu kommen. So wird Woche für Woche künstliche Spannung kreiert. Es entstehen Tausende von Sendungen, die die Charts zum Thema haben. Das hat Auswirkungen auf die Musik: Produzenten gehen hin und produzieren in der Absicht, den Geschmack der Top 40 Käufer zu treffen. Verlierer dieser Entwicklung sind kreative Musikerinnen und Musiker. Erst ab Mitte der 60er – das Album wird immer wichtiger (vorher spielte es keine Rolle) und der Einführung der Top 200 LP Charts, entzerrt sich das wieder ein wenig. Ganz wichtig dabei; Untergrund Radio Stationen, die auf UKW Musik senden, die nicht formatiert ist.
In den USA gelten die Billboard Charts weiterhin als wichtig. Interessant ist, dass man im Blatt auch die genauen Verkaufszahlen der Woche geliefert bekommt, (anders als bei uns, wo das geheime Verschlusssache ist) und da sieht man, dass die Verkäufe massiv eingebrochen sind. Billboard hat sich angepasst – in die Kalkulation fließen Download-Verkäufe und Streamingzahlen.
Bedeutungsverlust im digitalen Zeitalter
Blickt man auf die Charts dieser Woche entdeckt man eine Aufspaltung in Jung und Alt: die Single Charts sind dominiert von Elektronischer Tanzmusik, Hip Hop und R&B. Klassischer Rock oder Indie Rock sind tot. Jedenfalls für die jungen Käuferinnen und Käufer. Interessant ist Platz 1, der von einem deutschen Produzenten besetzt ist. Der Hamburger Felix Jaehn (20) hat es mit dem Remix eines Songs des jamaikanischen Sängers OMI an die Spitze geschafft. "Cheerleader", heißt das Stück.
Billboard nennt zwar OMI als Interpreten, betont aber, der Hit "hat weltweiten Erfolg zum großen Teil dank des Remixes von Felix Jaehn". Der in Hamburg geborene und in Mecklenburg aufgewachsene Jaehn gehört derzeit zu den gefragtesten DJs und Musikproduzenten. Er hatte dem reggaegeprägten und schon 2012 erschienenen "Cheerleader" von OMI einen Elektropop-Anstrich gegeben und damit weltweit Erfolg.
Schaut man auf die LP-Charts, sieht man, dass auch dort die oben genannten Genres dominieren, aber der gute alte Neil Young ist in den Top 40. Das Singer-Songwriter Urgestein ist mit "Before This World" Top Ten. Am 4. Juli führte er die Charts sogar an. Zum ersten Mal in seiner Karriere. Aber: für die Nummer 1 reichten 96.000 verkaufte Exemplare in jener Woche. Das ist sehr wenig. Zeigt aber, dass das ältere Publikum eben noch den Tonträger kauft.
Aber eben auch, dass das Geschäft mit der Musik immer schlechter wird und die Billboard Charts allmählich ihre Bedeutung verlieren werden.
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