Zwischen Meditation und Aufregung

Von Wolfgang Martin Hamdorf · 16.10.2011
Fünf Tage lang präsentierten Künstler aus zahlreichen lateinamerikanischen Ländern, aus Spanien und Portugal in den Berliner Ufer Studios Tanz, Theater und Videokunst. Ein Schwerpunkt lag auf Mexiko.
Der Schrei als letzter Gefühlsausbruch in einer wachsenden Beklemmung, der Schrei gegen die alles vereinnahmende Klanginstallation. Eine Frau in einem militärgrünen Kleid arbeitet mit ihrer ganzen physischen Kraft gegen die starken Töne und kehrt immer wieder zurück zu einem roten Kinderminiaturpiano, entlockt ihm disharmonische Klänge und verzweifelt. In ihrem Stück "Witness" ("Zeugin") erzählt die 41-jährige Argentinierin Maria Marta Colusi mit Musik, Licht und Körperausdruck von Kindheitserinnerungen und Krieg.

Fast alle Stücke wurden von einer, maximal zwei Personen dargestellt, mit einem minimalen Aufwand an Licht und Ausstattung. Die künstlerische Leiterin des Festivals, die kolumbianische Tänzerin und Choreografin Martha Hincapié Charry spricht hier vom "Autorentanz":

Martha Hincapié Charry: "Es sind keine großen Produktionen mit großen Budgets und großen Effekten, sondern es sind sehr persönliche, fast private Arbeiten, aber das macht sie gerade interessant, aber auch universell verständlich. Wenn du ganz ehrlich von dir erzählst, dann ist das auch für andere verständlich, zumal der Tanz und Körperausdruck universell verständlich sind, da gibt es keine Sprachbarrieren, du wirst integriert und nicht ausgeschlossen."

In den Stücken wird die kleine Geste zum großen Ausdruck, werden die ins Leere geschlagenen Golfbälle auf der mit Stroh bedeckten Bühne zum Ausdruck der Sprachlosigkeit zwischen einem Paar in ländlicher Idylle, und da wird in einem anderen Stück die Suche nach einem kleinen Platz zum Verweilen zur existenziellen Lebensentscheidung, schwankt der Zuschauer mit den Körperbewegungen zwischen Meditation und Aufregung.

Durch die Mischung minimaler Ausstattungselemente entstehen beeindruckende lebende Bilder: So inszeniert die Portugiesin Helena Botto in ihrem Stück "Descomposiçao" ("Verwesung") mit trockenen violetten Blütenblättern, Cellophan, unterschiedlichen Stoffen und Kleidern und besonders ihrem eigenen körperlichen und mimischen Ausdruck einen Reigen aus Trauer, Einsamkeit und ganz morbider Leidenschaft, an deren Ende ein lustvoller Totentanz steht:

Helena Botto: "Vielleicht geht es auch um eine innere Leere, es gibt hier leere Körper, Kleider ohne Körper, es fehlt etwas, etwas ist verloren gegangen."

Der Schwerpunkt des Festivals lag dieses Jahr auf Mexiko. Dabei nähert sich das Tanztheater der Wirklichkeit oft aus einer ganz unerwarteten Perspektive einer unerträglichen Wirklichkeit an. So interpretiert die mexikanische Choreografin Yeri Anarika Vargas in ihrem Stück "Teresa" Leben und Sterben einer bekannten Drogenhändlerin in Mexiko mit schwarzem Humor und verfremdeter Populärkultur, schiebt etwa im Minirock bekleidet einen Staubsauger über eine gigantische Kokainspur. Mehr als um die harte soziale Realität, um Migration und Drogenkrieg in ihrer Heimat geht es ihr um die Mentalität, die die grausame Wirklichkeit begleitet.

Yeri Anarika Vargas: "Daher kommt mein tragikomischer Ansatz, die Realität ist so hart, dass man ihr nur wenig hinzufügen kann. Ich kann keinen Zuschauer einbeziehen, wenn ich die ganze Zeit nur melodramatisch agiere, ich brauche einen Gegenpol. Gerade in Mexiko treiben wir das Melodramatische so ins Extrem, dass es komisch wirkt. Das gilt nicht nur für Mexiko, da sind alle unsere Länder sehr seltsam."

Nicht nur in den Stücken, sondern auch in den zahlreichen Installationen und Tanzvideos, die in den fünf Tagen präsentiert wurden zeigten sich ganz unterschiedliche Darstellungsformen des iberoamerikanischen Tanztheaters. Dabei haben die Künstler und Künstlerinnen aus Argentinien, Mexiko, Costa Rica, Kuba, Spanien, Portugal und anderen lateinamerikanischen Ländern alle einen Berlin-Bezug, leben und arbeiten teilweise hier. Der Produktionsleiter des Festivals, der Schauspieler und Dramaturg Jan Viethen sieht hier eine ausbaufähige Arbeitsebene:

"Und wenn man auf dem Festival hier ist, dann spürt man das auch. Und wenn man hier sieht, wie die Leute zusammenarbeiten, wie alle reinbuttern und geben, geben, geben und gemeinsam was Neues entsteht, dann spürt man das. Es sind auch ganz wunderbare Sachen passiert, was die größte Freude für uns ist, dass jetzt verschiedene Künstler sich zusammentun und Projekte hieraus erarbeiten, und dass also "Plataforma" ein bisschen hinter sich gelassen wird und daraus etwas Neues wächst, also dass "Plataforma" Kinder gebärt, und das ist eigentlich das allergrößte Kompliment für uns."

Faszinierend war in den fünf Tagen der kreative Werkstattcharakter des Festivals. So war auch die Abschlussveranstaltung heute Abend eine gemeinsame Arbeit der meisten am Festival beteiligten Künstler mit ironischen Brechungen, etwa dem verfremdeten Mariachi und einem gemeinsamen Auszug aus den Theaterräumen.

Link zum Thema:

Plataforma - Iberoamerikanisches Festival