Zwischen Hoffnung und Todesangst

12.03.2013
Der Schriftsteller David Wagner leidet seit Kindertagen an einer Autoimmunhepatitis - und wäre fast daran gestorben, wenn die Ärzte ihm nicht rechtzeitig eine Leber transplantiert hätten. In seinem neuen Buch liefert er einen eindrucksvollen literarischen Bericht über den Weg zurück ins Leben.
Alles beginnt mit einem ebenso ersehnten wie gefürchteten Anruf: Ein Spenderorgan ist da. Einmal hatte er die Spenderleber schon abgelehnt. Seine kleine Tochter hatte bei ihm geschlafen, als der Anruf kam. Er wollte sie nicht wecken, wusste nicht, was er mit dem Kind machen sollte. Dieses Mal ist er allein, und er lässt sich nicht zuletzt wegen des Kindes auf die Organtransplantation ein, weil er jede Chance, am Leben zu bleiben nutzen will: Die Tochter braucht den Vater.

Das Motto dieses eindrucksvollen literarischen Berichts über den Weg in ein sicheres Leben, den langen Krankenhausaufenthalt, die Operation, die Hoffnung, die Angst, die Empfindungen angesichts des fremden Organs und die Begegnungen mit anderen Patienten lautet: "Alles war genauso und auch ganz anders."

Der Autor, der Ich-Erzähler leidet seit Kindertagen an einer Autoimmunhepatitis. Seine Leber tut nicht, was sie tun müsste. Das erste Kapitel trägt die Überschrift "Blut", denn aus heiterem Himmel - er kommt abends nach Hause, fühlt sich gar nicht schlecht - schießt das Blut aus seinem Mund, die Speiseröhre blutet, wenn diese Blutung nicht sofort gestoppt wird, ist sein Tod sicher. Er weiß das, wie er fast alles über seine Krankheit und die Folgen weiß. Er ist ein Spezialist seiner körperlichen Behinderungen und Einschränkungen. Er weiß, dass das Blut nach innen fließt. Er ruft den Notarzt, er wacht im Krankenhaus wieder auf, erfährt vom Arzt, wie die Varizenblutung gestoppt wurde.

Wagner betrachtet sich wie durch ein Mikroskop
Er hat Glück gehabt. Er lebt. Schon in diesem ersten Kapitel gelingt David Wagner ungewöhnliches: Er beschreibt genau und poetisch die Bedrohung, die Angst, das Aufwachen, - als sähe er sich selber unter einem Mikroskop. Er kommentiert und wundert sich, er spürt nach und führt ihn freundlich und mit großem Interesse vor: den Patienten, der er ist. "Besucher bringen Blumen mit, bald sieht es aus wie in einem Blumenladen. Oder wie auf einer Beerdigung."

Leicht hätte dieser Bericht über einen lebensbedrohenden körperlichen Defekt, über die Rettung, die allein der Tod eines anderen Menschen ermöglicht, also über einen ungeheuerlichen Vorfall, nämlich eine Lebertransplantation, mitleidheischend oder sentimental werden können. Natürlich hat der Erzähler von Beginn an das Interesse und die Gefühle des Lesers auf seiner Seite. David Wagner appelliert jedoch mit keiner Zeile an unser Mitgefühl. Das ist kein dramatischer Patientenbericht, sondern ein literarisch genau gefasster und komponierter Text darüber, wie ein Mensch in dieser Lage sich fühlt, was er denkt und beobachtet, wie er die lange Zeit übersteht, wie und warum er über all das schreibt.

Dieses Buch über die Kraft des Lebens und des Überlebenwollens ist aber noch mehr: Der Autor entwirft souverän und zugewandt ein Menschheitspanorama. All die anderen Patienten - die neben ihm im Zweibettzimmer liegen, die verzweifelt oder hoffnungsvoll auf dem Krankenhausflur von ihrer Lage erzählen, die wie er in der Reha-Klinik auf eine Gesundung hoffen - sind nicht zuletzt die Protagonisten dieser klugen Geschichte über das Leben am Rand des Todes.

Besprochen von Manuela Reichart

David Wagner: Leben
Rowohlt Verlag, Reinbek 2013
288 Seiten, 19,95 Euro

Im Rahmen der Leipziger Buchmesse stellt der Schriftsteller David Wagner sein Buch "Leben" in unserer Sendung Bücherfrühling 2013 vor.


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Deutschlandradio Kultur auf der Leipziger Buchmesse (dradio.de)

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