Zwischen Drogenkrieg und Prostitution

19.07.2012
In der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez werden immer wieder junge Frauen vermisst oder tot aufgefunden. Der US-amerikanische Schriftsteller Sam Hawken nimmt dies als Vorlage für seinen Kriminalroman "Die toten Frauen von Juárez". Mit einem fesselnden Showdown zeichnet er ein Bild von Korruption, Prostitution und dem Drogenmilieu.
Man kann von dem Titel dieses Romans des amerikanischen Autors Sam Hawken leicht in die Irre geführt werden. Hat man es hier mit einem Sachbuch, einem erzählenden Sachbuch zu tun – und nicht mit einer fiktiven Geschichte? Die titelgebendentoten Frauen von Juárez gibt es wirklich. Es sind die mehr als 600 jungen Frauen, meist Fabrikarbeiterinnen, die seit 1993 in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez vermisst werden oder tot aufgefunden wurden, mitunter bestialisch verstümmelt. Es gibt Verdächtige, aber keine nennenswerten Verurteilungen. Es gibt Theorien über einen oder mehrere Serientäter, aber kein handfestes Beweismaterial. Und es gibt Spuren, die ins Drogen- und Prostitutionsmilieu führen – aber Mexiko befindet sich ja sowieso in einem von Jahr zu Jahr heftiger werdenden Drogenkrieg. Die Mordserie jedenfalls wurde bisher weder stimmig aufgeklärt noch entscheidend gestoppt.

"Der Krieg gegen die Drogen übertrumpft alles" schreibt Sam Hawken in seinem Nachwort, äußert die Hoffnung, "dass dieser Roman die feminicidios wieder ein wenig ins Blickfeld rückt". Sam Hawken benutzt die Frauenmordserie also als sehr realen Hintergrund für seinen Kriminalroman. Die erste Hälfte besteht aus dem Porträt des heruntergekommenen US-Boxers Kelly Courter, der Drogenprobleme hat, selbst mit Drogen handelt und sich in Juárez mit fragwürdigen, vorher abgesprochenen Boxkämpfen über Wasser hält. Courter will wieder raus aus dem Sumpf, auch mit Hilfe seiner mexikanischen Freundin Paloma, die sich in der Gruppe "Mujeres Sin Voces" für die verschwundenen Frauen engagiert. Als Paloma eines Tages selbst verschwindet und ihre Leiche gefunden wird, gilt Courter als Hauptverdächtiger. Er kommt ins Gefängnis und wird so lange gefoltert, bis er ins Koma fällt und stirbt.

Zur Hauptfigur wird deshalb in der zweiten Hälfte von Hawkens Roman der alternde, melancholische Polizeiinspektor Rafael Teódulo Sevilla Adán. Dessen Tochter Ofelia ist ebenfalls eine der verschwundenen Frauen, seine Ehefrau Ana hat sich deswegen das Leben genommen. Sevilla beginnt die Fälle von Paloma und Kelly Courter zu ermitteln, wobei er tief vordringt in das Geflecht von Korruption und Immobilienspekulation, von Prostitution und Drogen. Überraschend ist das Ende nicht, doch gelingt es Hawken gut, die Spannung mehr und mehr aufzubauen. Überzeugt sein Roman in der ersten Hälfte durch die sehr intensiven, atmosphärischen Schilderungen des Lebens in Juárez und der US-Nachbarstadt El Paso, so nimmt er in der zweiten Hälfte das für einen Thriller typische Tempo auf: kurze Kapitel, schnelle Schauplatzwechsel und ein langer, fesselnder Showdown.

Entgegen der Wirklichkeit sorgt Sevilla immerhin für ein bisschen Gerechtigkeit. Die übrigens auch Hawken für die Rezeption seines Romans einfordert. Denn der 2004 verstorbene chilenische Schriftsteller Roberto Bolano hat in seinem großen Werk "2666" den toten Frauen von Juárez ebenfalls ein langes Kapitel gewidmet. Hawken wird nun mit dem berühmten Kollegen immer wieder konfrontiert und verglichen, was vielleicht wirklich nicht ganz fair ist. Er hat einen Genreroman geschrieben, und als ein solcher ist "Die toten Frauen von Juárez" gelungen und lesenswert.

Besprochen von Gerrit Bartels

Sam Hawken: Die toten Frauen von Juárez. Roman.
Aus dem Englischen von Joachim Körber.
Tropen Verlag, Stuttgart 2012. 316 Seiten, 19, 95 Euro.

Links bei dradio.de:

Weltzeit: Stadt der verschwundenen Frauen

Weltzeit: Neueste Nachrichten vom Drogenkrieg

Buchkritik: Reportage aus dem Herzen der Finsternis
Jeanette Erazo Heufelder: "Drogenkorridor Mexiko", Transit Verlag, Berlin 2011, 240 Seiten
Mehr zum Thema