Zwischen den Jahren

Gedanken über die Stille

Eine Frau hält den Zeigefinger vor den Mund.
Kein Lärm, nur Stille - das wünschen sich viele Menschen. © picture-alliance / dpa / Klaus Rose
Von Ulla Lenze · 27.12.2015
Die Tage zwischen Weihnachten und Silvester sind eine seltsam entschleunigte Zeit. Viele Menschen sehnen sich dann nach innerer Einkehr und Stille. Aber was ist das eigentlich? Eine philosophische Betrachtung.
In dieser eher stillen Zeit zwischen den Jahren - nach der Weihnachtserschöpfung und noch vor der erneuten Selbstmobilisierung fürs Silvestergetöse - häufen sich die Freizeitangebote, die mit Stille werben: Kraft-in-der-Stille-Seminare und Schweigeretreats zum Jahreswechsel. Beworben werden sie gern in kritischer Abgrenzung zur Lärmkultur - auch vom Lärm der eigenen Gedanken -, mit dem Ziel, durch diese Stille-Radikal-Kur die innere Balance für das Bevorstehende wiederherzustellen.
Dem Lärm wird somit gern in Opposition eine Ideologie der Stille entgegengehalten, die auf sein Abschalten aus ist.
Die Sehnsucht nach Stille ist weit verbreitet, genauso wie der Abwehrreflex gegen ihren trivial-romantisch bis esoterischen Beiklang. Und ebenfalls weiß jeder: Ist die akustische Stille dann wirklich einmal da, kann sie auch bedrohlich wirken statt Ruhe zu spenden.
Wenn Stille als Abwesenheit von Geräusch und gar, wie in vielen Meditationstraditionen, die von Gedanken definiert wird, fehlt der Resonanzraum. Nicht nur metaphorisch, auch im wörtlichen Sinn. Die Camera Silens etwa - eine dunkle und schallisolierte Kammer - ist eine weiße Foltermethode.
War Stille zwar nie ausdrücklich Gegenstand der Philosophie, galt und gilt sie stets als erkenntnisfördernd, als eine Möglichkeit, einen Raum für das Denken zu öffnen. Sogar Hegel, der die romantische Verklärung des Unsagbaren und Begriffslosen stets verächtlich als "Fischen im Trüben" abtat, zweifelte kurz vor seinem Tod, ob der "laute Lärm des Tages [...] noch Raum für die Teilnahme an der leidenschaftslosen Stille der nur denkenden Erkenntnis offen lasse".
Marketing-Strategen fürchten die Stille
Gilt Stille als Ermöglichungsbedingung von Erkenntnis, ist umgekehrt den Marketing-Strategen bekannt, dass von Stille eine konsumhemmende Wirkung ausgeht; ein Grund, weshalb Verkaufsräume mit Musik beschallt werden. Auch das spricht dafür, dass Stille nicht nur Abwesenheit von Geräusch bedeutet, sondern eine Art Rückbesinnung begünstigt – möglicherweise die Pause von unseren "Wünschen", jenen unstillbaren, die uns samt defizitärer Grundverfassung ständig unterstellt werden.
Insofern wäre Stille, zumal im öffentlichen Raum, mehr als eine angenehme Ruhe, die nur privat relevant bleibt. Sie wäre womöglich gesellschaftlich subversiv, die Absage an ein degradierendes Menschenbild, das die Manipulierbarkeit des Menschen befördert.
Die Stille, nach der man sich zu Recht sehnen kann, liegt also womöglich gerade nicht im Bereich des Kaufbaren, Konsumierbaren und Machbaren. Vielleicht ist Stille vielmehr ein Bruch mit dieser allgegenwärtigen Prämisse – auch mit der der eigenen Reparaturbedürftigkeit (wie durch Seminare suggeriert wird). Möglicherweise ist Stille auch gar nicht lautlos, sondern eine besondere Form der Kommunikation – zunächst als Resonanzraum im eigenen (und nicht fremdaufgedrängten) Denken und dann auch als Hinwendung zum Anderen. Dieses dynamische, auch dialektische Ineinander von Stille und Sprechen findet sich bei Heidegger: "Die Sprache spricht als ein Geläut der Stille", schreibt er und: "Zum redenden Sprechen gehören als Möglichkeit Hören und Schweigen."
Stille ist vielleicht insofern kein isolierter Raum im Außen und Innern, den man eigens herstellen oder gar bezahlen muss, sondern vielmehr eine Öffnung auf diese Möglichkeit hin, dass die Stille immer schon da ist, wenn wir uns auf sie besinnen.
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