Zwischen Brasilien und Paraguay

Von Gudrun Fischer · 31.08.2010
Der Itaipu-Staudamm in Südamerika produziert so viel Strom wie zehn deutsche Kernkraftwerke. Der Preis für das Megaprojekt ist jedoch hoch: Tausende Ureinwohner haben ihre Heimat verloren, riesige Regenwaldflächen wurden abgeholzt oder verschwanden in den Fluten.
"Vier Guarani-Gemeinschaften leben am brasilianischen Ufer des Stausees, vier auf der Seite gegenüber, in Paraguay. Am meisten leiden sie darunter, dass ihre Friedhöfe im See verschwanden. Dort ruhen ihre Ahnen, das sind heilige Orte. Die Betreiber des Wasserkraftwerks Itaipu boten damals an, die Gebeine der Toten umzulagern. Aber die Guarani sagten, heilige Orte dürfen nicht umgegraben werden."

Francisco Amarilla ist Journalist und sitzt in der südbrasilianischen Grenzstadt Foz do Iguaçu in einer dunklen Bar. An den Nebentischen schlingen junge Männer ihr Abendessen herunter. Fahrig nippt der 60-jährige Journalist an seinem Mineralwasser. Er selber ist kein Indigener, kein Guarani. Trotzdem ist ihre Situation zu seinem Lebensthema geworden. Er kennt das Wasserkraftwerk Itaipu, das zehn Kilometer vor den Toren der Stadt liegt, seit er ein junger Mann war.

60.000 Menschen mussten vor 35 Jahren auf beiden Seiten des Flusses für den Staudamm und den Stausee ihr Land verlassen, erzählt er. Itaipu ist eine Aktiengesellschaft, die mit dem produzierten Strom nach Tilgung der Schulden Gewinn erwirtschaften soll. Doch Itaipu ist keine unabhängige Firma. Alle Leitungsposten werden von den Regierungen Brasiliens und Paraguays direkt besetzt.

"Das Wasserkraftwerk Itaipu brachte der Region großen Fortschritt. Aber auch ein großes Ungleichgewicht. Die Stadt Foz do Iguaçu wuchs wegen Itaipu auf 300.000 Einwohner an. Den Preis zahlten die Umwelt und das Volk der Guarani. Der größte Teil der Guarani lebte an den Ufern des Flusses Paraná."

Die Stadt Foz do Iguaçu wird von zwei Flüssen eingerahmt: Dem Grenzfluss zwischen Paraguay und Brasilien, dem Paraná, der nördlich der Stadt zum Itaipu-Stausee aufgestaut wird. Und dem Fluss Iguaçu, der südlich der Stadt vorbei fließt. Dort liegen die Iguaçu-Wasserfälle, die in einem zwei Kilometer langen Canyon über 80 Meter tief fallen. Es waren die Indigenen Guarani, die dem Fluss und der Stadt den Namen Iguaçu, "Grosses Wasser", gaben.

Eine Legende der Guarani erzählt die Entstehungsgeschichte der Wasserfälle: Naipi, eine junge, schöne Frau, war dem Gott M’Boy versprochen, den sie nicht liebte. Als sie per Boot mit dem jungen Indianer Tarobá flieht, schäumt Gott M’Boy vor Wut. Er kriecht in die Erde und schüttelt sie, bis die Wasserfälle entstehen, in denen das Boot der Flüchtenden versinkt.

100 Meter von den Iguaçu-Wasserfällen entfernt steht eine Gruppe Guarani im Regen und singt. Ein älterer Mann stimmt ein Lied an, acht ärmlich gekleidete Kinder setzen ein. Eine Holzkiste steht vor ihnen, dort sollen Touristen Geld hinein werfen. Wenn niemand vorbei kommt, spielen die Kinder zwischen den Büschen Fangen. Die Iguaçu Wasserfälle gelten als eins der schönsten Naturschauspiele der Welt. Von den 20 großen und über 200 kleinen Wasserfällen steigt Gischt auf. Regenbogen spannen sich über das Tal und auf jedem kleinen Felsvorsprung glänzen zwischen den Wassermassen dunkelgrüne, tropische Pflanzen.

Zwei Millionen Menschen besuchen jährlich dieses Spektakel. Ein Viertel dieser Touristen besichtigt auch das 20 Kilometer entfernte Itaipu-Wasserkraftwerk mit seiner acht Kilometer langen Staumauer und dem dahinter liegenden Stausee. Innerhalb der Staumauer liegen 20 lastwagengroße Turbinen, die mithilfe des hinein stürzenden Wassers den Strom erzeugen.

Francisco Amarilla, der neben Spanisch und Portugiesisch auch Guarani spricht, wird manchmal als Übersetzer engagiert und führt Fremde zur Guarani-Gemeinschaft "Acaray-Mi-Pi" auf der paraguayischen Seite des Itaipu-Stausees. Diese Gemeinschaft bekam vor zehn Jahren von der Itaipu-Kraftwerksleitung einen Ersatz für ihr überschwemmtes Land zugesprochen. Das neue Land liegt fünf Kilometer entfernt vom Ufer des Stausees, mitten im paraguayischen Sojaanbaugebiet.

Die Fahrt zur Gemeinschaft führt über die einzige, enge Grenzbrücke zwischen Brasilien und Paraguay. Bronzefarben fließt unter der Brücke das Wasser des Paraná gen Süden. Wald und steile Granitfelsen bilden das Ufer.

In der Guarani-Gemeinschaft angekommen, besucht Francisco Amarilla als erstes den Chef, den Cazique Emiliano Martinez. Es weht ein heißer Wind. Mit einem Eimer ziehen die beiden Männer Wasser aus einem Brunnen und unterhalten sich. Neben dem Brunnen steht Emiliano Martinez’ einfache Holzhütte. Ein paar abgemagerte Hühner laufen über den Hof. An das Grundstück grenzen weite Sojafelder.

"Wir haben unser Land an große Sojabauern verpachtet, das bringt ein wenig Geld. Daneben haben wir ein paar kleine Felder für den eigenen Gebrauch. Große Felder können wir nicht selber bepflanzen, denn die Kraftwerksleitung von Itaipu hat uns nur Land gegeben, keine Arbeitsmittel. Wenn wir Traktoren hätten, würden wir das Land gerne selber bebauen."

Der Cazique ist 25 Jahre alt. Nie wanderte er als Halbnomade durch die Wälder wie einst seine Großeltern. Den Wald, der vor 50 Jahren noch stand, kennt er nicht. Zwar trennte der Paraná-Fluss auch früher schon die paraguayischen Guarani-Gemeinschaften von den brasilianischen. Aber mit einem Kanu war der Fluss leicht zu überqueren und die Verwandten konnten sich treffen. Nun ist der Stausee für eine Kanuüberquerung zu breit.

"Trotzdem besuchen wir uns gegenseitig, wenn es uns hier oder unseren Leuten auf der brasilianischen Seite schlecht geht. Wenn wir kaum zu essen haben, dann versuchen unsere Leute auf der brasilianischen Seite für uns an Unterstützung heranzukommen."

Seit die brasilianische Presse immer wieder auf die schlechte Situation der Guarani aufmerksam macht, bekommen sie auf der brasilianischen Seite Nahrungsmittelpakete und eine minimale Sozialhilfe. In Paraguay dagegen gibt es bislang keine Sozialprogramme.

"Trotz unserer Schwierigkeiten pflegen wir unsere Gebräuche. Wir haben unser großes Haus, unser 'oreguaçu', wo wir uns wenigstens einmal pro Monat treffen. Dann tanzen wir und feiern unsere Feste. Uns ist sehr wichtig, dass die Jugendlichen das alles lernen."

Der Cazique erklärt den Weg zur Hütte des Heilers der Gemeinschaft und seiner Frau Apolonia Ferreira. Dort spielen einige Kinder im Hof. Apolonia Ferreira scherzt mit Francisco Amarilla. Hühner, Enten und Katzen laufen herum. Die Strohhütte der Familie ist so groß wie ein Zelt. Dahinter liegt auf einem Stück Pappe ungeschälter Reis zum Trocknen. Am Zaun leuchten rote Maiskolben in der Sonne.

Die Kinder streiten sich um die Hängematte, die zwischen zwei kleinen Bäumen aufgespannt ist. Ein paar Holzbohlen dienen als Sitze, ein batteriebetriebenes Transistorradio klemmt unter dem Dachfirst der Hütte. Apolonia Ferreira erzählt vom Jaguar, der gefährlichsten und wegen ihrer Tupfen hübschesten Wildkatze Brasiliens und Paraguays.

"Es gibt kein Wild mehr, daher essen wir wenig Fleisch. Als der Itaipu-Stausee sich mit Wasser füllte, gingen viele Arbeiter des Staudamms wildern. Sie töteten maßlos alles Wild, das sie erlegen konnten. Es gab früher Tapire und Wildschweine, das war unser bevorzugtes Fleisch. Die Tiere und den Wald gibt es nicht mehr. Auch den Jaguar habe ich als Kind öfter gesehen, das ist vorbei."

Apolonia Ferreira und ihr Mann lernten nie lesen und schreiben, aber ihre Kinder gehen heute auf eine Schule. Ob das eine positive Veränderung für ihre Gemeinschaft ist? Die Antwort bleibt vage. Nach der Schule würden die Kinder heiraten. Wer einen weißen Paraguayer heiratet, geht weg. Wer in der Gemeinschaft heiratet, bleibt und setzt das Dorfleben fort.

"Ich hatte neun Kinder, davon sind fünf gestorben. Ich hole das Gemüse vom Feld, kümmere mich um die Kinder, wasche Wäsche, das ist mein Alltag."

Mehr als um die verarmten Guarani kümmert sich die Itaipu-Kraftwerksleitung um die Umwelt. Der Bau der 200 Meter hohen Staumauer und die Überflutung des Gebiets war ein erheblicher Eingriff in die Natur, gibt das Unternehmen inzwischen zu. Francisco Amarilla kann sich noch gut daran erinnern, als der Fluss Ende 1982 zum Stausee aufgestaut wurde.

"Wir haben die Tiere eingefangen, die vor dem Wasser flohen. Die Chefs von Itaipu baten auf beiden Seiten des Flusses während der Flutung um Hilfe. Sie nannten das Projekt Mambaqueira, 'unsere Tiere'. Freiwillige wie ich, die Feuerwehr, die Polizei, die Marine, alle kamen. Es waren so viele Tiere, auch kleine Spinnen und Schlangen. Sie liefen vor dem Wasser davon und kletterten auf die Bäume. 40 Tage dauerte es, bis der Stausee voll Wasser war. Sie nannten es die große Flut. Viele, viele Tiere starben, wir konnten nicht alle retten. Das war auch die Zeit, wo Wilderer leichte Beute machten."

Das Unternehmen Itaipu leistet sich inzwischen eine Umweltabteilung mit 300 Wissenschaftlerinnen und Technikern. Diese analysieren die Veränderungen im Stausee, der 170 Kilometer lang ist und zweimal so groß wie der Bodensee. Einer der Itaipu-Angestellten ist der Ingenieur Anderson Braga Mendes. Er sitzt in seinem Büro im Verwaltungsgebäude des Kraftwerks unweit der Staumauer und blättert eilig in einem Heft mit Grafiken und Tabellen.

"Sie behaupteten, der Stausee werde eine Lebensdauer von 250 bis 300 Jahren haben. Ich aber habe berechnet, dass es nur 160 Jahre sind. Denn jeder Stausee versandet, weil Flüsse ja Sedimente mit sich bringen. Und wenn die Sedimente sich nicht mehr ablagern können, weil der See schon voll ist, gelangen sie in die Turbinen und schädigen sie.

Somit wird eines Tages die Aufrechterhaltung des Betriebs zu teuer und der Stausee wird aufgegeben. Für den Dreischluchtenstaudamm in China ergab die erste Berechnung eine Lebensdauer von 30 Jahren. Dann wurde das neu berechnet und es kamen 60 bis 70 Lebensjahre heraus. Für Brasilien gilt ein Staudamm als rentabel, wenn er wenigstens 50 Jahre läuft."

Anderson Braga Mendes bekam keinen Ärger, als er seinem Arbeitgeber Itaipu die kürzere Lebenszeit des Stausees bewies. Immer noch produzieren die Turbinen so viel Strom wie in keinem anderen Wasserkraftwerk der Welt. Da versprechen 160 Jahre ausreichend Gewinn. Nur einen irreparablen Verlust hatten Brasilien und Paraguay durch das Itaipu-Kraftwerk, gesteht Anderson Braga Mendes. Die wasserreichsten Wasserfälle der Welt, die "Sete Quedas" am Paraná-Fluss, versanken im Stausee. Sete Quedas heißt "Sieben Wasserfälle". Sie lagen 180 Kilometer nördlich von Foz do Iguaçu und manche nannten sie die wilden Schwestern der Iguaçu-Wasserfälle.

"Die Wasserfälle Sete Quedas waren sozusagen unser Trumpf, unser Schatz, unser Vorrat. Ohne die Canyons dieser ehemaligen Wasserfälle, wäre der Itaipu-Stausee längst unbrauchbar. Heute liegen in diesen Spalten von über hundert Metern Tiefe die Sedimente. Diese Abgründe bewahren die Turbinen vor Schlamm und Sand."

Auch die Süßwasserbiologin Simone Frederigi Benassi ist angestellt bei Itaipu. Sie sitzt im Nachbarbüro des Ingenieurs und zeichnet die Umrisse des Stausees auf ein Papier. Verlandung und Verschmutzung, beschwichtigt sie, seien bekannte Probleme an allen Stauseen der Welt.

"Weil die Buchten des Stausees schon fast versandet sind, setzen sich Wasserpflanzen fest. Wie die Pflanze Eugéria, die sich mit ihren Wurzeln im Boden festhält. Es gibt auch Schwimmpflanzen, auch sie zeigen an, dass das Wasser eutrophiert, also belastet ist. Unsere Badestellen haben mit der Verlandung massive Probleme und sie bitten uns oft, die Pflanzen zu entfernen."

Auf die Frage jedoch, ob der Stausee Itaipu eine Klimaveränderung bewirkt, darf sie nicht antworten. Die Rechtsabteilung des Wasserkraftwerks untersagt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, öffentlich über Klimafragen zu sprechen. Der Journalist Francisco Amarilla ist nicht bei Itaipu angestellt und hat nichts zu befürchten, wenn er über das Klima spricht.

"Das Klima spielt verrückt. Auch Klimatologen sagen, dass in Foz do Iguaçu die Temperatur in den letzten 30 Jahren um drei Grad stieg. Es verdunstet viel mehr Wasser, der See ist ja wie ein Spiegel. Das bedeutet mehr Nebel und der staut die Hitze. 45 Grad Lufttemperatur sind im Sommer inzwischen üblich, vor sechs Jahren waren es sogar einmal 50 Grad. Der Wald ist verschwunden, dafür haben wir jetzt das Wasser."